Elisabeth Hug

Ein beinahe hoffnungsloser Fall


Скачать книгу

in den Kreis der Verdächtigen. Wenige Wochen nach dem Tod von Benedikt Hagedonk und etwa drei Monate nachdem die tote Betty gefunden worden war, reiste Hanna mit ihrem Sohn Oskar zur Erholung in das Ferienhaus der Familie an den Gardasee. Bommelmütz holte nochmals kurz die Polizeiakte und studierte eine Stelle daraus, um die Details aufzufrischen: «Die Familie Hagedonk besaß seinerzeit ein Segelboot. Benedikt hatte es nur wenige Monate vor seinem Tod erworben. Das nigelnagelneue Segelboot mit dem Namen ‹Coniglietta› lag in Sirmione. Am Morgen des 19. Juli liefen Hanna, Oskar und ein Bekannter der Familie namens Flavio Moretti mit dem Boot trotz Sturmwarnung aus dem Hafen aus. Sie wollten auf eine nahe gelegene kleine Insel segeln, um dort zu Mittag zu essen. Es war gegen 11:00 Uhr vormittags, als der Sturm etwa die Stärke 8 erreicht hatte. Der Wind peitschte ihnen Wasser ins Gesicht und das Boot wurde wie eine Nussschale von den Wellen hin- und hergeworfen, aber zum Umkehren war es da schon zu spät gewesen. Nahe der Insel, die sie ansteuern wollten, war ihr Boot von einer Böe erfasst worden. Hanna Hagedonk und Moretti sagten unabhängig voneinander aus, dass die Wellen etwa meterhoch gegen die Seite des Bootes schlugen. Oskar versuchte das Boot aus dem Wind zu drehen. Bei diesem Manöver wurde es von einer besonders hohen Welle getroffen.

      Oskar, der als einziger keine Schwimmweste trug, stolperte über ein Tau, schlug mit dem Kopf gegen die Bordwand. Besinnungslos blieb er auf dem Deck liegen. Hanna Hagedonk und auch Moretti schilderten, dass sie sich wegen des Wellengangs selbst kaum halten und ihm nicht helfen konnten. Im nächsten Augenblick katapultierte eine hohe Welle Oskar förmlich über Bord. Hanna Hagedonk und Moretti sagten aus, im Gegensatz zu Oskar relativ unerfahrene Segler gewesen zu sein. Sie warfen ihm noch einen Rettungsring nach, aber im nächsten Augenblick war sein Körper bereits von der Wasseroberfläche verschwunden und nicht mehr zu sehen gewesen. Es dauerte gemäß ihren übereinstimmenden Angaben rund fünfzehn Minuten, ehe sie das Boot gewendet hatten und an etwa der Stelle zurückwaren, wo das Unglück passiert war. Der Rettungsring trieb auf der Gischt, aber von Oskar fehlte jede Spur. Die alarmierte Wasserschutzpolizei suchte die Stelle bis zum Einbruch der Dunkelheit akribisch ab. Hanna Hagedonk sagte aus: «Mein Sohn ist sportlich durchtrainiert und ein ausgezeichneter Schwimmer. Er ist Wettkämpfe geschwommen und hat dabei viele Preise gewonnen.»

      Da sowohl Hanna Hagedonk als auch Moretti ausgesagt hatten, dass Oskar, ehe er vom Boot gespült wurde, mit dem Kopf gegen die Bordwand geschlagen war, ging die Polizei davon aus, dass er zu dem Zeitpunkt, als er ins Wasser fiel, immer noch ohnmächtig gewesen war. Trotzdem klammerte sich Hanna Hagedonk an die Hoffnung, dass ihr Sohn sich schwimmend ans Ufer gerettet haben könnte.

      Die Suchaktion der Seerettung wurde am folgenden Tag auch auf die Uferbereiche ausgedehnt, blieb jedoch ebenfalls erfolglos. Zwei Tage später wurde auf der Insel, auf der sie zu Mittag essen wollten, der rechte Schuh von Oskar gefunden. Dieser rechte Schuh blieb alles, was man je von Oskar fand.

      Auch ein Tauchereinsatz blieb erfolglos. Der See ist an der Unglücksstelle etwa 150 Meter tief und von starken Strömungen durchzogen. Die italienische Polizei legte den Fall nach zwei Monaten zu den Akten. Zumal an fast genau derselben Stelle schon zwei ähnliche Unfälle passiert waren. Auch in diesen beiden Fällen hatte der See seine Opfer in seinem dunkelblauen Schlund verschluckt und nie mehr herausgegeben.

      Bommelmütz seufzte tief, schlug die Akte zu, legte sie auf einen Stuhl und deckte sie noch mit der Tageszeitung ab, sodass sie keine Spritzer abbekommen sollte.

      Es wurde jetzt wirklich höchste Zeit, dass er sich um sein Festmahl kümmerte.

      Während Bommelmütz das Gemüse für den Fleischfond vorbereitete und das Baguette auf ein Schneidbrett legte, kam ihm ein weiterer Akteur in den Sinn: «Boone».

      «Boone» hieß mit bürgerlichem Namen Peter Hufschmid. Aber Peter Hufschmid war ein ziemlich banaler Name für einen ausgesprochen exzentrischen Zweiundzwanzigjährigen, der vom Tod, dem Sterben und der Vorstellung vom Leben nach dem Tod gleichsam besessen war. Als Peter zwölf Jahre alt war, starb seine Großmutter. Weil seine Mutter psychisch labil und alleinerziehend war, war Peter zuvor hauptsächlich bei der Großmutter aufgewachsen. Nach dem Tod seiner geliebten Oma schien Peter irgendwie verloren. Er sonderte sich ab und war oft allein auf dem Friedhof am Grab seiner Großmutter anzutreffen. In dieser Zeit fing er an, Knochen zu sammeln. Er besaß eine ganze Kiste voll davon. Viele davon waren menschlichen Ursprungs und stammten wohl vom Friedhof, auf dem seit hunderten von Jahren unzählige Tote bestattet worden waren, deren Knochen bei Starkregen zuweilen aus der Erde freigespült wurden. Die Schulkameraden gruselten sich ein wenig vor Peter, nachdem seine Obsession bekannt geworden war.

      Aber Peter hatte eine charismatische Ausstrahlung und war bei Lehrern und Mitschülern ob seiner großen Hilfsbereitschaft, Kreativität und Spontanität sehr beliebt.

      Peter bekam von seinen Mitschülern bald den Spitznamen «Boone». Er mochte den Namen so sehr, dass er mit «Peter» abschloss und sich bald nur noch mit «Boone» vorstellte. Boone kleidete sich ausschließlich in Schwarz und gab vor, mit dem Jenseits in Kontakt zu stehen. Es war eine schrullige Spinnerei von ihm, gewiss. Er kiffte viel. Wer weiß, vielleicht kam er nach einem seiner Drogentrips einfach nicht mehr herunter, und die Phantastereien waren eine Folge.

      Tatsache war, Boone spinnte ein wenig, war aber auf seine ihm ureigene Art ein wirklich netter Kerl. Bommelmütz erinnerte sich noch gut, als er ihn eines Abends nach einem Konzert völlig zugedröhnt in einer Bar getroffen hatte. Boone versuchte den ganzen Abend, ihn davon zu überzeugen, dass der Tod die eigentliche Bestimmung des Menschen sei.

      Boone redete allerlei wirres Zeug, das niemand so richtig verstand, und produzierte auf dem Synthesizer eine extrem exzentrische Musik. Er war so abgedreht, dass einige Leute aus der Musikszene auf ihn aufmerksam geworden waren. Ein Musikproduzent bot ihm sogar einen Plattenvertrag an. Boone zeigte sich überglücklich und posaunte die Geschichte von seinem Vertrag überall herum, ohne dass diesen wirklich jemand zu sehen gekriegt hätte. Er redete davon, dass er eine völlig neuartige Komposition im Kopf habe, die alles je Dagewesene in der Musikszene völlig auf den Kopf stellen würde. Für die anstehenden Aufnahmen seiner Komposition fehlte ihm neues Musik-Equipment, das er vom Vorschuss des Plattenvertrags bezahlen würde. Am Abend hing er die letzten Wochen vor seinem Verschwinden meist in der einzigen Diskothek des Ortes ab, rauchte selbst für seine Verhältnisse ungewöhnlich viele Joints und redete noch mehr wirres Zeug als sonst. Boone verschwand ungefähr zur selben Zeit wie Betty, ohne, dass ein Zusammenhang zwischen seinem Verschwinden und dem Mord an Betty ersichtlich gewesen war. Jedenfalls hatte es seit über zehn Jahren von Boone nie mehr ein Lebenszeichen gegeben.

      Bommelmütz sah auf die Uhr. Bereits 7:00 Uhr. Höchste Zeit, den Wein zu entkorken, dachte er. Er schnitt mit dem Kellnermesser die Folie an und entfernte diese. Dann positionierte er die Spirale des Flaschenöffners vorsichtig in der Mitte des Korkens, drehte ihn langsam ein, hielt dann die Flasche mit der einen Hand und zog mit der anderen gleichmäßig den Korken aus der Flasche.

      Der Korken verließ die Flasche widerwillig quietschend und zum Schluss mit einem lauten Plopp. Bommelmütz begutachtete den Zapfen. Er war tiefrot gefärbt und zum Glück gänzlich schimmelfrei. Zur Sicherheit führte er den Korken an seine Nase und sog den Duft tief durch seine Nasenflügel.

      Das feine Aroma von Kirschen, Vanille, dunklen Brombeeren mit einem Hauch von gegerbtem Leder entfaltete sich in seinen Nasenflügeln. Bommelmütz war sehr zufrieden. Fachmännisch, probierte er einen Schluck, ehe er den Château Lafite Rothschild vorsichtig in die Dekantier-karaffe hineingleiten ließ. Er achtete streng darauf, dass das Depot in der Flasche blieb. Der Wein hatte eine herrliche dunkelrote Farbe. Ihm lachte das Herz und er freute sich, diesen eleganten Tropfen mit Sophie zu teilen. In dieser Hochstimmung schweiften seine Gedanken wiederum zu Boone. Wenn er genau darüber nachdachte, hatte er diesen mageren, blondgelockten und völlig abgedrehten Jungen sehr gemocht; den eigenartigen Jungen samt seiner Spinnereien und seiner exzentrischen Musik.

      «Boone war etwas ganz Besonderes; aus dem hätte echt noch etwas werden können», kommentierte er wehmütig zu sich selbst.

      Dann nahm er die Kräuterbutter aus dem Kühlschrank. «Sie entfaltet ihr Aroma am besten, wenn sie nicht ganz kalt ist», dachte Winni. Er griff zum Brotmesser und schnitt vier nicht zu dicke Scheiben Baguette ab. Die Baguette-Stange