Elisabeth Hug

Ein beinahe hoffnungsloser Fall


Скачать книгу

Tage nach Auffinden der Leiche zu dem Fall hinzugezogen worden. Nach dem Sichten der Tatortfotos war er extrem dankbar für diesen Umstand sowie dafür, dass er nicht mit zur Obduktion in die Gerichtsmedizin gemusst hatte.

      Allein bei dem Anblick der Fundortfotos und beim Lesen des Protokolls liefen ihm eiskalte Schauer den Rücken hinunter.

      Als ob der Mord an sich nicht schon schrecklich genug gewesen wäre, so war das Vorgehen des Täters bei der Entsorgung der Leiche ein Affront wider die guten Sitten und die Menschlichkeit selbst gewesen.

      Das Bild des als Vogelscheuche getarnten, mit Stroh umwickelten und an einen Pfahl festgezurrten toten Mädchens vor Augen ließ ihn nach einem abartigen und psychisch kranken Monster als Mörder suchen.

      Aber vielleicht war auch das wieder nur ein Trugschluss und er musste sich von all diesen vorgefertigten Meinungen freimachen. «Was, wenn der Täter keinen anderen Weg gewusst hatte, sich der Leiche zu entledigen? Wenn es für ihn ganz einfach der bequemste und ein naheliegender Weg gewesen war?»

      Immerhin, als Betty umgebracht worden war, war es Winter, eisig kalt und der Boden gefroren. Ein Grab auszuheben, hätte viel Kraft erfordert und wäre schwierig gewesen. Die meisten Seen und Teiche in der Region waren während Wochen zugefroren gewesen. Eventuell war das der Grund, warum der Mörder diesen Weg gewählt hatte. Tatsache war, dass die Leiche irgendwo zwischengelagert worden sein musste. Der Mörder musste also einen Ort gehabt haben, der zumindest während der Frostzeit, eine sichere Zwischenlagerung der Leiche ermöglichte. Erst danach hatte er sie auf die Krähenhöhe zu den drei Eichen gebracht. Das setzte Ortskunde voraus.

      Dieser Ansatz schien Bommelmütz vielversprechend. Er würde ihn weiterverfolgen. Es war ein langer, aufregender Tag gewesen. Bommelmütz überlegte. Seitdem er an diesem Morgen aufgestanden war, hatte sein Leben eine komplette Wendung genommen. Und das war das Beste, was ihm seit Langem passiert war. Er erinnerte sich nicht mehr daran, wann er ähnlich glücklich gewesen war, und strich aus purer Lebensfreude und Dankbarkeit Tiger noch einmal über das Fell, ehe er ihn hinausbugsierte. Aus lauter Müdigkeit hätte er fast vergessen, zu kontrollieren, ob er den Herd tatsächlich ausgeschaltet hatte. Er war schon im Bad und musste nochmals zurück nach unten in die Küche. Aber Bommelmütz war ein Kontrollfreak. Erst nachdem er sich rückversichert hatte, dass der Herd und alle anderen Geräte in der Küche abgestellt und die Türen und Fenster fest verschlossen waren, ging er zu Bett und versank sofort in einen tiefen, aber von intensiven Träumen durchsetzten Schlaf.

      Am nächsten Morgen konnte er sich nur an einen Teil seiner Träume erinnern. Boone kam darin vor, Oskar, die alten Hagedonks und verschiedene Jungen und Mädchen aus Bettys und Oskars ehemaliger Clique, die er damals befragt hatte.

      Bommelmütz war später aufgewacht, als er es sich vorgenommen hatte. Verschlafen rieb er sich die Augen. Er überlegte, ob es wirklich wahr oder nur ein Traum gewesen war, dass sich seine Lebenssituation seit dem letzten Morgen, als er die Zeitung aus dem Briefkasten geholt hatte, komplett verändert hatte.

      Seine Zeit war seit gestern nicht mehr belanglos und beliebig. Er hatte vielmehr Angst, etwas zu verpassen, und sprang nach einem kurzen Blick auf seinen Wecker freudig aus dem Bett. Sein Morgenprogramm absolvierte er in der Hälfte der üblichen Zeit. Noch im Morgenmantel eilte er mit langen Schritten aus dem Haus. Sein Herz hüpfte vor Freude, während er im Eilschritt zum Briefkasten marschierte, um die Zeitung zu holen. Dies war kein guter, sondern ein sehr guter Tag. Bommelmütz hatte allen Grund, sehr glücklich zu sein!

      Im Vorbeigehen schaltete er unten in der Küche seine Kaffeemaschine ein und huschte danach samt Zeitung ins Bad. Er duschte nur knapp zwei Minuten und überflog während des Rasierens und Zähneputzens den Lokalteil der Zeitung. Zum Fall Betty gab es einen Einspalter. Im Wesentlichen enthielt er aber nur Meinungen und auch diesmal wieder keine neuen Informationen. Es gab auch Leserzuschriften, die sich mit dem Fall beschäftigten. Eine Mutter von zwei halbwüchsigen Töchtern befürchtete, dass die neuerliche Berichterstattung Nachahmungstaten provozieren könnte. Zwei weitere Personen sprachen sich für die Neuaufnahme des Falles aus, um endlich Gerechtigkeit für das tote Mädchen zu erlangen. Dasselbe belanglose Wischiwaschi, das man aus Leserzuschriften bereits zur Genüge kannte und das ihn nicht weiterbrachte.

      Obwohl an diesem Morgen alles rasend schnell ging, rasierte, frisierte und kleidete sich Bommelmütz noch sehr viel sorgfältiger als sonst üblich. Er blieb sogar extra vor dem großen Garderobenspiegel im oberen Gang stehen, drehte sich um seine eigene Achse und kontrollierte genauestens seine Frisur und den Sitz seiner Kleidung. Er würde für den nächsten Tag einen Termin bei seinem Frisör buchen. Das Haupthaar war für seinen Geschmack schon viel zu lang, und er würde sich auch seinen Nacken gründlich ausrasieren und die Nägel maniküren lassen. Er prüfte kritisch den Sitz seiner Kleidung.

      Dann setzte er sich rittlings auf das schmiedeeiserne Geländer und rutschte wie ein Schuljunge grinsend über das ganze Gesicht darauf hinunter. Er strotzte von Tatendrang und Übermut und in diesem Zustand innerer Erregung schlüpfte er in seine Sneakers, stopfte sich eine Einkaufstasche aus Baumwollstoff in die Jackentasche sowie einen Geldschein, zog die Haustüre hinter sich zu und machte sich schnellen Schrittes auf den Weg.

      Was Sophie über die alte Hagedonk erzählt hatte, deckte sich überhaupt nicht mit seinem eigenen Bild und ließ ihm keine Ruhe. Er musste sich selbst überzeugen.

      Die von Sophie bezeichnete Stamm-Bäckerei der Frau Hagedonk lag nur etwa 500 Meter von seinem Haus entfernt. Bommelmütz hatte dort seit Jahren kein Brot mehr gekauft, weil der Bäcker dafür bekannt war, dass er Industriebackmischungen verwendete. Die Bäckerin begrüßte Bommelmütz beim Eintreten mit Namen, gab sich ihm gegenüber ansonsten aber ziemlich reserviert, weil er so lange nicht bei ihr eingekauft hatte. Bommelmütz musste alle Register ziehen und seinen ganzen Charme spielen lassen, um sie freundlich zu stimmen. Erst als er ihr Vollkornbrot gekostet und über die maßen gelobt hatte, taute die Frau endlich auf.

      Das Brot war nicht halb so gut, wie er behauptet hatte. Aber die Lüge half. «Der Zweck heiligt bekanntlich die Mittel», dachte sich Bommelmütz.

      Schließlich erkundigte er sich wie beiläufig nach seiner alten Bekannten, Frau Hagedonk. Die Bäckerin war plötzlich überaus mitteilungsbedürftig und erzählte ihm, als sie endlich warm geworden war, ohne Argwohn alles, was er wissen wollte. Bommelmütz hatte die Zeit seines Besuchs in der Bäckerei sehr gut gewählt. Es waren keine weiteren Kunden da, die den schier unendlichen Redefluss der geschwätzigen Bäckersfrau unterbrechen konnten.

      Die Aussagen der Bäckerin bestätigten Sophies Eindruck, dass Frau Hagedonk tatsächlich Geldprobleme haben musste. Er fand diese Erkenntnis ebenso erstaunlich wie aufschlussreich.

      Mit einem großen Vollkornbrot in seiner Stofftasche und einer nahezu unerschöpflichen Menge an kleinstädtischem Klatsch und Tratsch im Gedächtnis machte sich Bommelmütz nach ca. einer Dreiviertelstunde zurück auf den Heimweg.

      Während der Kaffee in die angewärmte Tasse strömte und seinen verführerischen Duft in der ganzen Küche verbreitete, schmierte er sich ein Stück Hefezopf, das er noch vom Vortag übrighatte, mit Butter und Marmelade. Er durfte nicht vergessen, das Vollkornbrot beim Bauern in der Nachbarschaft für die Hühner in die Tonne für das alte Brot zu werfen, ehe es schimmelig wurde. Essen würde er dieses Industriebrot nämlich nicht. Sein Kopf schwirrte noch immer vom Redefluss der Bäckerin. Sicherlich, es waren nur Klatsch und Tratsch, was sie erzählt hatte. Aber bestimmt lag auch Wahres darin. Um nichts Wichtiges zu übersehen, musste er die Aussagen detailliert zu Papier bringen.

      Mit der Kaffeetasse in der Hand begab er sich in die Eingangshalle. Dort beim Telefon lag Schreibzeug, und das brauchte er jetzt dringend. Mit der Tasse in der einen und einem Stift und Block in der anderen Hand kehrte er an den Frühstückstisch zurück.

      Es war längst an der Zeit, die vielen Details zu ordnen. Die Speicherkapazität seines Gehirns war an seinen Grenzen angelangt. Aussagen, Eindrücke und Textfragmente lagerten übereinander wie Kleidungsstücke in einem unaufgeräumten Schrank. Er musste wieder Ordnung in dieses Chaos bringen. Sonst war die Gefahr groß, wichtige Details zu vergessen, oder noch viel schlimmer, durcheinanderzubringen.

      Er