Gisela Jahn

Treffpunkt Reiterhof


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Sie versetzte dem zusammengeknüllten Butterbrotpapier einen weiteren Stoß. »Natürlich passiert so etwas nicht von heute auf morgen!«, sagte sie. »Zuerst habe ich geglaubt, dass dieser Mann nur einer von Mutters Freunden ist, verstehst du? Sie ist schon immer ziemlich gesellig gewesen, hin und wieder geht sie mit Geschäftsfreunden oder Kollegen aus. Oder sie lädt sie ein. Das gehört zu ihrem Beruf. Aber mit keinem von denen hat sie sich so unterhalten wie mit ihm.«

      »Und wie hat sie mit ihm gesprochen?«

      »Wie ein junges Mädchen hat sie sich benommen!«, erklärte Jutta und machte eine hilflose Handbewegung. »Sie haben ausgemacht, dass wir das Wochenende bei ihm auf seinem Reiterhof draußen vor der Stadt verbringen sollen. Und das Tollste daran ist: Die beiden glauben wirklich, dass es mir da gefallen wird.«

      »Pferde und reiten?« Marianne war mit einem Mal Feuer und Flamme. »Jutta, bist du denn völlig verrückt? Wie kannst du dich nur ärgern, wenn deine Mutter einen Reitstallbesitzer heiraten möchte?« Marianne schüttelte den Kopf und zog Jutta in einen stillen Winkel des Schulhofes.

      »Überlege doch einmal ein bisschen!«, riet sie ihr enthusiastisch. »Wenn die beiden heiraten und er dein Stiefvater wird, dann kannst du jeden Tag reiten. Und brauchst keinen Pfennig dafür zu bezahlen. Du kannst dir die Pferde aussuchen, du brauchst dich nicht an die Stunden zu halten ...«

      Wieder schüttelte Marianne den Kopf. »Also, ich sage dir, wenn mir so etwas passieren würde, ich würde ...«

      Marianne verschlug es allein bei der Vorstellung, dass ihrem Vater ein Reiterhof gehören könnte, die Sprache. Jutta lächelte, denn sie konnte Mariannes Begeisterung durchaus verstehen. Ihre Freundin war eben eine Pferdenärrin. »Pferdeverrückt« nannte sie es. Ihr ganzes Taschengeld sparte Marianne, um sich zweimal im Monat ihre Reitstunden leisten zu können.

      Aber Jutta hatte eben mit Pferden nichts im Sinn, das konnte sie mit aller Bestimmtheit sagen. Sie hatte Marianne einige Male zu ihren Reitstunden begleitet. In eine kalte Reithalle, die irgendwo draußen am Stadtrand lag. Frierend hatte sie eine Weile zugeschaut, wie Marianne auf einem schrecklich hohen Pferd im Kreis herumgeritten war. Dann war Jutta wieder hinaus in die Sonne gegangen und hatte gewartet, bis ihre Freundin erhitzt und überaus zufrieden aus dem Stall gekommen war. Seitdem fragte sich Jutta immer wieder, was einem Menschen nur an diesem Gehoppel auf einem Pferderücken gefallen konnte.

      Marianne zupfte sie am Ärmel.

      »Es hat geklingelt!«, sagte sie. »Der Unterricht geht weiter.«

      Während Jutta mit Marianne ins Schulgebäude eilte, beschäftigten sich ihre Gedanken schon wieder mit dem Telefongespräch, das ihre Mutter gestern Abend geführt hatte. Mit diesem Mann, der nun offensichtlich ihr Stiefvater werden sollte.

      Denn aus all dem, was Jutta gehört hatte, konnte man eigentlich gar keinen anderen Schluss ziehen.

      Es war am vergangenen Abend gewesen. Jutta lag in ihrem Zimmer auf dem Bett und war so in das Buch, das sie gerade las, vertieft, dass sie das erste Klingeln des Telefons überhörte. Erst beim dritten oder vierten Läuten wurde sie aufmerksam, doch als sie auf dem Weg ins Wohnzimmer war, hörte sie die Stimme ihrer Mutter. Grit Fassbender hatte den Anruf also schon angenommen.

      »Ich freue mich, dass du anrufst!«, hörte Jutta ihre Mutter sagen, und. ihre Stimme hatte einen seltsamen, sanften Klang. »Ich habe schon den ganzen Abend gewartet.«

      Es folgte eine lange Pause, in der Juttas Mutter nur hin und wieder »Mhh« machte oder leise lachte. Und dann sagte sie auf einmal: »Oh, das wäre herrlich ... Wir können am Sonnabend losfahren und dann das Wochenende bei dir auf dem Reiterhof verbringen.« Dann sagte der Mann am Telefon wieder etwas, und Juttas Mutter erwiderte: »Ich bin sicher, dass ihr beiden euch gut verstehen werdet. Du bist ihrem Vater in sehr vielen Dingen ähnlich, Gerold. Und welches Mädchen kann außerdem einem Reiterhof mit einem Dutzend Pferden widerstehen? Hoffentlich freundet sie sich auch mit Billie an ...«

      Es hatte nur einige Sekunden gedauert, bis Jutta die Bedeutung dieser Worte begriff. Bisher hatte ihre Mutter sich niemals mit einem Mann geduzt und so vertraulich mit ihm gesprochen. Und wer war diese Billie, von der sie gesprochen hatte?

      Weiter erfuhr Jutta noch, dass der Reiterhof dieses Mannes einige Kilometer draußen vor der Stadt bei einer Ortschaft namens Kleinstetten lag, und dann fiel ihr auch wieder der bunte Prospekt eines Pferdehofes ein, den sie vor einigen Tagen auf der Flurkommode entdeckt hatte. Sie hatte angenommen, dass es sich um einen Auftrag für ihre Mutter handelte, denn hin und wieder gestaltete Frau Fassbender nebenbei für einige Geschäftsleute Werbedrucksachen. Jutta schlich leise zur Kommode und zog die oberste Schublade heraus. Richtig, da lag das bunte Faltblatt noch.

      »Ferien auf dem Reiterhof« stand in hellen Buchstaben über dem Foto einer Gruppe von Reitern, die über eine Weide galoppierten. Jutta blätterte den Prospekt auf. »Inhaber Gerold Kehrmann und seine Reitlehrer freuen sich, Ihre Bekanntschaft zu machen!«, hieß es am Schluss des kurzen Textes, in dem alle Vorzüge eines Ferienaufenthaltes auf dem Reiterhof beschrieben wurden.

      »Also dann bis zum Wochenende!«, hörte sie die Stimme ihrer Mutter aus dem Wohnzimmer. Das Telefongespräch war zu Ende, Jutta huschte in ihr Zimmer zurück und legte sich aufs Bett. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander wie welke Blätter im Sturm. Warum hatte ihre Mutter ihr nur nichts von diesem Mann erzählt? Warum hatte sie auf einmal Geheimnisse vor ihr?

      In der folgenden Englischstunde saß Jutta geistesabwesend auf ihrem Platz und hörte nur die Hälfte der Vokabeln, die Herr Bramkamp, der Englischlehrer der 8 b, aus der neuen Lektion vorlas und erklärte.

      »Jutta?!«

      Wie durch eine dicke Watteschicht drang ihr Name an ihr Ohr. Erschrocken fuhr Jutta auf und sah, wie die anderen Mädchen in der Klasse schadenfroh grinsten. Herr Bramkamp sah sie streng an.

      »Weißt du, dass ich dich jetzt schon zum zweiten Mal aufrufe?«, fragte er.

      »J-ja!«, stotterte Jutta.

      »Gut, dass du dich auch an das erste Mal erinnerst!«, sagte Herr Bramkamp. »Ich dachte schon, ich hätte umsonst gebrüllt!« Wieder kicherten ein paar Mädchen, doch der Lehrer ließ sich nicht dadurch irritieren. »Würdest du jetzt bitte die

      Freundlichkeit haben, den ersten Abschnitt aus unserem neuen Lesestück zu übersetzen?«, bat er Jutta freundlich.

      »Was …« Jutta sah die lachenden Gesichter ihrer Mitschülerinnen, die alle ihre Englischbücher aufgeschlagen vor sich liegen hatten.

      »Ich ... ja, natürlich!« Jutta griff rasch nach ihrem Buch. Es dauerte eine Weile, bis sie das neue Lesestück gefunden hatte.

      Ihre Klassenkameradinnen konnten sich vor Lachen und Kichern kaum noch halten. Sie tuschelten von »Liebeskummer« und »rumgeträumt«. Wütend sah Jutta Herrn Bramkamp an, der an allem schuld war.

      Als der Lehrer erkannte, dass Jutta während der Stunde kaum aufgepasst hatte und deshalb auch nicht mehr als drei Sätze übersetzen konnte, sagte er leise: »Nach der Stunde möchte ich mich gern einmal mit dir unterhalten, Jutta.«

      »Jetzt übersetzt Karin weiter!«, fuhr Herr Bramkamp mit dem Unterricht fort und sorgte damit für Ruhe in der Klasse.

      Nach der Englischstunde, als die anderen Schülerinnen auf den Hof hinuntergegangen waren, blieben Jutta und Herr Bramkamp noch eine Weile im Klassenzimmer.

      »Du warst ja richtig erschrocken, als ich dich vorhin aus deinen Tagträumen gerissen habe!«, begann Herr Bramkamp. »Was hat dich denn so sehr beschäftigt?«

      »Es war … nichts!«, versuchte Jutta auszuweichen, nachdem sie für einen Moment mit dem Gedanken gespielt hatte, Herrn Bramkamp alles zu sagen. Doch der Englischlehrer war bekannt dafür, dass er sich nicht mit Ausreden abspeisen ließ.

      »Hast du dir vielleicht wegen der nächsten Englischarbeit Sorgen gemacht?«, fragte er. »Dann würde ich dir allerdings raten, im Unterricht etwas mehr aufzupassen als heute.«

      »Nein … das ist es nicht!«, sagte Jutta zögernd.

      Sie