Celine Ziegler

REMEMBER HIS STORY


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Flur und kniet sich vor mich, wie Mama es vorhin getan hat. „Wieso weinst du denn? Möchtest du nicht in den Klassenraum kommen?“

      „J-Jimmy“, beginne ich wieder zu schluchzen und sie versteht sofort. Jimmy ärgert mich oft und Misses Hatheway gibt ihm auch immer wieder Strafarbeiten, wenn er mich beleidigt oder verletzt, aber er tut es immer wieder.

      „Hach, Süße“, seufzt Misses Hatheway und wischt mir mütterlich die kleinen Tränen von den Wangen, die wieder wie Bäche zu fließen begonnen haben. „Du hattest doch gestern Geburtstag. Zeig doch der Klasse dein neues schönes Kleid, die werden Augen machen, wenn sie dich so sehen. Das verspreche ich dir.“

      „Jimmy hat mich Heuschrecke genannt“, weine ich und spiele mit meinen, von meiner Mutter perfekt gefeilten Fingernägeln.

      „Jimmy macht das nur, weil er dich so hübsch findet, glaube mir. Jungs sind sehr komplizierte Wesen.“ Sie steht schmunzelnd auf und streicht mir über den blonden Schopf. „Komm mit rein. Wir warten schon alle auf dich.“

      Schließlich nicke ich trotzig und wische mir schniefend die letzten Tränen von den Wangen. Ich folge Misses Hatheway durch den Türrahmen und hoffe, dass ich nicht ausgelacht werde, weil ich geweint habe. Ich weine sehr schnell, das mag ich nicht, aber ich kann es nicht ändern. Ich bin sehr sensibel, sagt Mama immer, nah am Wasser gebaut. Umso schlimmer ist es, dass ich durch Jimmy immer weniger gern in die Schule gehe, weil er mich ständig beleidigt oder mir wehtut. Doch schlimmer als manche Löcher in meinen Lieblingshosen oder Risse in meinen Kleidern, die er verursacht hat, sind Jimmys Worte. Er macht mir all die Dinge, die ich am liebsten habe, zunichte. Wie mein Kleid. Ich bin keine Heuschrecke, ich trage doch nur das grüne Kleid, das ich zu meinem Geburtstag bekommen habe.

      Misses Hatheway ruft durch den Klassenraum, dass alle Schüler sich setzen sollen, und ich laufe mit gesenktem Kopf zu meinem Platz, vorbei an Jimmys und Charlys Tisch, die mich beide missbilligend betrachten. Ich frage mich, wieso sie mich nicht mögen. Schon seit dem Kindergarten mögen sie mich nicht. Ohne Grund.

      Ich setze mich auf meinen Sitzplatz neben meiner Freundin Maria. Ihre und meine Familie gehen jeden Sonntag gemeinsam in die Kirche und dadurch habe ich mich mit ihr angefreundet. Sie ist meine beste Freundin, schon seit der ersten Klasse. Maria lächelt mir schweigend zu, während Misses Hatheway vorne den Unterricht beginnt. Maria hat ihre braunen Haare wieder zu einem französischen Zopf geflochten, wie sie es immer tut. Jeden Morgen nimmt ihre Mutter sich die Zeit und macht ihr die schönsten Frisuren, ich beneide sie darum, denn Mama hat morgens nicht viel Zeit und Papa kann nicht flechten.

      „Ich möchte jetzt, dass ihr Vierergruppen bildet und dann gemeinsam überlegt, welche Spiele wir am Tag der offenen Tür spielen könnten, okay? Die Kindergartenkinder sollen immerhin unterhalten werden“, verkündet Misses Hatheway und setzt sich an ihr Pult. „Notiert eure Ideen und dann schreiben wir sie gemeinsam an die Tafel. Und los!“

      Und schon ist der Trubel groß. Maria und ich sehen uns schon grinsend an, da wir immer in einer Gruppe sind, von daher brauchen wir nur noch zwei weitere Mitglieder.

      „Wie wäre es mit Patricia?“, fragt Maria mich und sieht nach ihr. Doch im selben Moment sehen wir, dass sie bereits in einer Gruppe mit den anderen Mädchen ist.

      Wir seufzen beide. Wir sind nur sechs Mädchen in der Klasse und das bedeutet, dass Maria und ich mit zwei Jungs eine Gruppe bilden müssen.

      „Ich frage Julien“, sagt Maria und will gerade aufstehen, als wir wieder feststellen müssen, dass auch Julien gerade eine Gruppe mit ein paar Jungs gebildet hat.

      Ich sehe mich um, wer noch allein sitzt, und mein Blick fällt auf Nathan, der mit trüben Augen auf die Schere in seiner Hand starrt, womit er gedankenverloren rumspielt. „Wie wäre es mit Nathan?“, frage ich Maria, halte meinen Blick aber auf ihm. Er ist immer allein und bei Gruppenarbeiten merkt man erst, wie unerwünscht er tatsächlich in unserer Klasse ist. Deswegen nutze ich die Chance, um ihm zu zeigen, dass nicht jeder etwas gegen ihn hat.

      „Nathan? Der ist komisch, mit dem will ich nicht in einer Gruppe sein. Wer weiß, ob er uns auch verprügelt, wenn wir seine Spielideen nicht annehmen.“ Maria sieht ängstlich zu ihm rüber.

      Sie redet über den Vorfall letzte Woche. Nathan hat sich mit einem Jungen aus der vierten Klasse geprügelt, den genauen Grund wissen wir leider nicht, aber es wird erzählt, dass Nathan ihn ohne Anlass geärgert hat und dann ist die Sache ausgeartet. Er gerät oft in Prügeleien mit Mitschülern und jedes Mal heißt es, dass er der Auslöser sei. Manchmal weiß ich nicht, ob das die Wahrheit ist, denn Nathan ist ein stiller Junge. Wenn man nicht mit ihm redet, schweigt er den ganzen Tag. Wie er immer wieder in Streitigkeiten mit anderen Jungs gerät, wundert mich schon seit der ersten Klasse.

      „Maria, Honor, habt ihr noch keine Partner?“, ruft Misses Hatheway zu uns.

      Wir schütteln beide den Kopf.

      Sie sieht sich im Raum um, dann sagt sie: „Ah, Nathan und Jimmy sind noch allein. Setzt euch bitte zusammen.“

      Sofort will ich nicht mehr in Gruppen zusammenarbeiten. Jimmy in meiner Gruppe? Er wird doch ständig wieder abwertende Kommentare über mein Kleid machen und mich Heuschrecke nennen, mir an den Haaren ziehen oder aus Versehen mein Kleid bemalen.

      Jimmy kommt schon mit einem gemeinen Lächeln an unseren Tisch, während Nathan sitzen bleibt und anscheinend gar nicht mitbekommen hat, dass wir eine Gruppe bilden sollen. „Na, Heuschrecke“, feixt Jimmy und setzt sich mit einem Stuhl an Marias und meinen Tisch.

      „Sie ist keine Heuschrecke“, verteidigt Maria mich mutig, während ich nur eingeschüchtert den Kopf hängen lasse und bete, dass der Tag so schnell wie möglich rumgeht.

      „Sie sieht aber aus wie eine.“ Jimmy greift über den Tisch zu der Schleife meines Kleides vor meiner Brust und zieht daran.

      „Hey, lass das“, jammere ich und will seine Hand wegstoßen, damit er die schöne Schleife nicht abreißt. „Das habe ich zum Geburtstag bekommen!“

      Und genau in dem Moment, als ich schon das erste Reißen gehört habe, fällt ein Mäppchen auf unseren Tisch und Nathan lässt sich gleichgültig auf einen Stuhl neben Jimmy sinken. Jimmy erschrickt und lässt sofort meine Schleife los. Zum Glück. Er rutscht weiter weg von Nathan und ein ängstlicher Ausdruck schleicht sich auf sein Gesicht, während Nathan nur auf die Tischplatte starrt und die Arme verschränkt. Jimmy hat Angst vor ihm. Wie jeder andere. Alle wissen, dass Nathan sich oft prügelt und gewalttätig ist, deshalb will niemand mit ihm reden, weil sie nicht die Nächsten sein wollen, die von ihm gehauen werden. Und durch Nathans ständige blaue Flecken an Armen und Hals, im Gesicht und der kleinen Narbe unter seinem rechten Auge, wirkt er noch gefährlicher.

      „Okay, fangen wir an“, beendet Maria die Stille und holt einen Schreibblock aus ihrem Schulranzen. „Wer möchte schreiben?“

      Alle schweigen. Ich, weil ich Angst vor Jimmy habe, Jimmy, weil er Angst vor Nathan hat und Nathan, weil er noch immer desinteressiert auf den Tisch starrt.

      „Dann schreibe ich.“ Maria holt ihren Füller heraus. „Habt ihr Ideen?“

      „Wie wäre es mit Reise nach Jerusalem?“, frage ich lächelnd, weil ich dieses Spiel liebe.

      „Das kann man nur in kleinen Gruppen spielen, dumme Heuschrecke“, wirft Jimmy ein.

      Sofort schweige ich wieder und sehe verängstigt auf meine Finger. Er kann es einfach nicht lassen.

      „Das stimmt doch gar nicht.“ Maria schreibt meine Idee auf den Zettel. „Das Spiel kannst du mit so vielen spielen, wie du willst, du dummer Rotkopf.“ Sie spielt auf Jimmys orangerotes Haar an.

      Bei seinem Aussehen würde man nie denken, dass er so gemein sein kann. Sein Gesicht ist voller Sommersprossen, seine Haut blass, er sieht eigentlich lieb aus. Bis er den Mund öffnet. Dann ist er einfach nur fies.

      „Halt die Klappe, du langweilige Kirchentussi“, motzt Jimmy zurück und zieht Maria den Füller aus der Hand, worauf sie einen dicken Strich über ihr Blatt malt.

      „Hey,