dich von Misses Hatheway wie ein kleines Baby behandeln, Heuschrecke?“
Sofort beginnt meine Unterlippe zu zittern. „Ich bin keine Heuschrecke“, gebe ich mit weinerlicher Stimme zurück, versuche, nicht zu weinen.
„Doch bist du. Und du bist genauso hässlich wie dieses hässliche Kleid, du Heulsuse.“
„Ich bin nicht hässlich“, schniefe ich leise. Papa sagt immer, ich sei hübsch, egal, was Jimmy sagt.
Als Maria erneut nach dem Füller greifen will, nimmt Jimmy die Feder und drückt sie fest auf den Tisch, sodass sie sich völlig verbiegt.
„Bist du blöd?“, schreit Maria und zieht ihm jetzt den Füller aus der Hand. „Du hast ihn kaputt gemacht!“
„Was ist denn hier schon wieder los?“ Misses Hatheway steht mit verschränkten Armen an unserem Tisch. Ich sehe sie flehend an und bitte sie mit meinen verweinten Augen darum, mich einfach nach Hause gehen zu lassen. „Solltet ihr nicht arbeiten? Stattdessen streitet ihr euch wieder! Jimmy, wie oft habe ich dir gesagt, du sollst die Mädchen in Ruhe lassen!“
„Jimmy hat meinen Füller kaputt gemacht“, sagt Maria und hält zornig ihren Stift in die Luft.
Misses Hatheway nimmt ihn und sieht ihn sich an. Dann sieht sie erbost zu Jimmy. „Wieso hast du das getan? Du kannst doch nicht einfach die Schulutensilien deiner Mitschülerinnen zerstören!“
Jimmy hat sofort wieder diesen typisch unschuldigen Blick auf dem Gesicht, mit dem man meinen könnte, er wäre der Engel höchstpersönlich. „Ich war das nicht, Misses Hatheway“, sagt er mit Glitzern in den Augen.
„Ach ja? Wer soll es denn sonst gewesen sein?“
Jimmy öffnet den Mund und scheint zu überlegen. Ich sehe ihn ungläubig an. Er hat den Füller kaputt gemacht! „Nathan war es!“, sagt er schließlich empört und zeigt auf Nathan, der immer noch schweigend und resigniert neben ihm sitzt. Er regt sich kein Stück. Als hätte er gewusst, dass Jimmy ihm die Schuld geben würde.
„Was?“, ruft Misses Hatheway aus. „Nathan schon wieder!“ Sie geht um den Tisch herum und haut den kaputten Füller vor Nathan darauf, worauf er mit müden Augen zu ihr aufblickt. „Ich hätte es mir ja schon fast denken können! Du kommst mit zum Rektor, ständig zerstörst du die Sachen der anderen!“
„Aber Nathan war es nicht“, lasse ich sie kleinlaut wissen, worauf Jimmy mich mit zusammengekniffenen Augen ansieht. „Es war Jimmy.“
„Schon gut, Honor“, wütet sie und zieht Nathan am Arm von seinem Stuhl. Sein Blick ist noch immer so gleichgültig, als wäre er ein Schlafwandler. „Nathan kann es einfach nicht lassen.“ Sie sieht ihn böse an. „Das ist das letzte Mal, dass du so frech bist! Der Rektor wird deine Eltern anrufen!“
Ich beobachte perplex, wie sie ihn aus dem Klassenraum hinter sich herzieht und er es sich gefallen lässt. Er bekommt oft von Schülern in unserer Klasse Sachen in die Schuhe geschoben, die er nie getan hat, und trotzdem wehrt er sich nie. Ihm scheint das wirklich alles egal zu sein. Ob er jetzt von der Schule geworfen wird? Die Lehrer haben ihm oft mit einem Schulverweis gedroht, bisher ist aber noch nichts passiert.
Ich frage mich, wie seine Eltern reagieren, wenn der Rektor ständig bei ihm zu Hause anruft. Sie müssen ihn ja sehr oft schimpfen. Aber ich habe sie sowieso noch nie gesehen, er kommt immer allein zur Schule. Nur einmal habe ich ihn aus einem schwarzen Auto aussteigen sehen. Wenn ich mir vorstelle, meine Eltern würden angerufen werden, weil ich etwas angestellt habe, bekomme ich unglaubliche Angst. Sie wären sehr enttäuscht von mir und würden mir wahrscheinlich meine Spielsachen wegnehmen. Aber ich würde auch niemals den Füller eines Mitschülers kaputt machen, denn mir wurde immer beigebracht, dass Gewalt keine Lösung ist.
„Du bist gemein“, traue ich mich zu Jimmy zu sagen, der selbstgefällig zusieht, wie Misses Hatheway Nathan aus der Tür zieht.
Er sieht mich grimmig an. „Was hast du gesagt, Heuschrecke?“
Ich knicke ein wenig ein, doch ich wiederhole: „Du bist gemein. Nathan hat nichts getan.“
Er kneift seine Augen wieder zusammen und dann reißt er auch schon, noch bevor ich reagieren kann, die grüne Schleife von meinem Kleid.
„Hey, bist du bescheuert?“ Maria reißt ihm die Schleife aus der Hand.
Ich beginne sofort wieder zu weinen. Jetzt hat er es tatsächlich kaputt gemacht. Viele lose Fäden hängen vor meinem Oberteil und ein kleines Loch ist entstanden, wodurch man mein weißes Unterhemd sehen kann.
„Oh, jetzt heult sie wieder“, macht Jimmy. „Du bist so eine Heulsuse, wie halten das ihre Eltern nur mit ihr aus?“
Ich halte mir die Hände vors Gesicht und verstecke mich weinend dahinter. Ich bin eine Heulsuse. So wie Jimmy es gesagt hat. Maria streicht mir tröstend über den Rücken und Jimmy geht von unserem Tisch weg zu Charly und Tim.
Nathan war bis zur großen Pause nicht mehr im Unterricht. Ich nehme an, dass seine Eltern ihn von der Schule abholen mussten. Er tut mir leid. Ständig bekommt er Ärger für Dinge, die er nicht getan hat. Aber wieso wehrt er sich nie dagegen? Ich verstehe ihn nicht. Er würde noch lange nicht so viele Strafen bekommen, wenn er sich mal behauptet und versucht, die Wahrheit zu sagen. Obwohl. Wahrscheinlich würden ihm die Lehrer nicht glauben. Kein Lehrer kann ihn ausstehen, weil er immer so viele Schüler verletzt. Angeblich soll er eine Lehrerin getreten haben.
Immer noch leise schniefend sitze ich mit Maria auf einer Bank am Schulhof, während die anderen Kinder um uns herum Fangen spielen oder am Klettergerüst hangeln.
„Mach dir nichts draus“, tröstet Maria mich. „Meine Mama kann dein Kleid wieder nähen, das hat sie doch sonst auch immer gemacht.“
„Aber es sieht dann nicht mehr so aus wie vorher“, jammere ich und sehe auf das Loch in meiner Brust, wo die Fäden raushängen.
„Ich sage ihr, dass sie sich viel Mühe geben soll. Jimmy ist ein doofer Blödmann, ich finde dein Kleid schön.“
„Danke … Übrigens ist mein Geburtstag heute um zwei. Mama meinte, sie könne dich abholen, weil deine Mama heute länger arbeiten muss.“
Maria nickt lächelnd. „Okay. Ich habe ein supercooles Geschenk für dich!“
Jetzt lächle ich auch. Doch dann wird Maria von einem Mädchen auf dem Schulhof gerufen und sie lässt mich kurz allein. Seufzend sehe ich auf die grüne Schleife in meiner Hand. Ich hatte mich so gefreut, das Kleid heute anzuziehen, und Mama hat heute Morgen auch noch gesagt, ich solle es nicht kaputt machen, und jetzt ist es doch kaputt. Es war neben meinem hellblauen Kleid mein liebstes.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich jemand auf die Bank neben meiner setzt. Ich blicke auf und wische mir ein paar Tränen von den Wangen, weil ich immer noch nicht ganz aufhören kann zu weinen. Es ist Nathan. Anscheinend mussten seine Eltern ihn doch nicht abholen. Er hat seine Hände in den Jackentaschen seiner schwarzen Jacke vergraben und lehnt sich wieder mit diesem gleichgültigen Blick zurück, sieht auf den Schulhof. Ich mag seine Haare. Sie sind so wuschelig und lockig, hängen ihm fast völlig über die grünen Augen.
Ich schniefe noch mal und rufe mit heiserer Stimme zu ihm rüber: „Hat der Rektor deine Eltern angerufen?“ Weil er nicht reagiert, rufe ich erneut und spiele nervös mit der Schleife in meiner Hand. „Nathan?“
Er sieht jetzt zu mir rüber, allerdings ändert sich sein Ausdruck nicht. Anscheinend möchte er mir nicht antworten oder hat mich einfach nicht verstanden, weil der Krach auf dem Schulhof so laut ist.
Ich rutsche ein wenig auf der Bank näher zu seiner. „Ich habe Jimmy gesagt, dass es gemein war, dass er dir die Schuld gegeben hat.“
Nathan ignoriert mich und sieht wieder nach vorne zum Hof.
Ich verziehe etwas verletzt den Mund. Mittlerweile sollte ich schon daran gewöhnt sein, dass er mich ignoriert, doch trotzdem lässt es mich schlecht fühlen. Ich versuche oft, mit ihm zu reden, damit er