Celine Ziegler

REMEMBER HIS STORY


Скачать книгу

ich schnaufend und versuche seinem Schritt standzuhalten. Wir bleiben an einer roten Ampel stehen und ich versuche, meine Atmung zu kontrollieren. „Also … danke schön.“

      Er dreht sich jetzt zu mir und ich kann sein Gesicht erkennen. Moment mal … Ist das nicht …? „War’s das?“, murrt er genervt.

      Eindringlich betrachte ich ihn und er runzelt schon die Stirn, weil ich ihn so anstarre. „Ja“, sage ich nachdenklich. „Das war’s.“ Er ist sehr unfreundlich dafür, dass ich mich nur bedanken wollte.

      Der Junge dreht seinen Kopf wieder weg und in dem Moment springt die Ampel auf Grün. Mir ist egal, ob es die falsche Richtung ist und mein Zuhause sich immer weiter von mir entfernt. Er geht davon, ohne noch etwas zu sagen, doch ich folge ihm wieder flink.

      „Bist du nicht der Junge aus der Apotheke?“, frage ich ihn neugierig und fühle mich schwach neben ihm, weil ich zwei Schritte machen muss, während er einen läuft.

      Wieder ignoriert er mich und atmet angespannt geradeaus, ich merke genau, wie er versucht, schneller zu werden. Doch ich nutze die Zeit, um ihn genauer zu betrachten. Das ist er definitiv. „Hör auf, mich so anzustarren“, knurrt er.

      „Du bist definitiv der Junge aus der Apotheke“, stelle ich fest und ignoriere seine vulgäre Ausdrucksweise.

      Er biegt in eine Straße und ich folge ihm weiter.

      „Willst du nicht mit mir reden?“, frage ich ihn.

      „Ach, ist das so offensichtlich? Hör auf, mir auf die Nerven zu gehen.“

      „Du musst nicht gleich beleidigend werden“, sage ich kleinlaut und sehe auf meine Füße.

      Plötzlich bleibt er stehen und ich remple gegen seine breite Schulter. „Ich werde jetzt links in diese Gasse biegen“, sagt er gereizt und sieht mir das erste Mal in die Augen. „Und du wirst in die andere Richtung gehen, verstanden?“

      Plötzlich fährt ein Schlag der Erkenntnis durch meinen Körper. Ganz davon abgesehen, dass er der Dieb aus der Apotheke ist, kommt er mir noch viel bekannter vor. Ich dachte zwar, dass es Zufall wäre, dass mich seine Augen an jemanden erinnern, aber … Da ist diese Narbe unter seinem linken Auge. Ich starre ihn nur erstarrt an. Das kann doch nicht Nathan sein. Oder? Nathan ist seit Jahren nicht mehr in Cardiff. Das kann nicht sein.

      „Alles klar.“ Er dreht sich weg und geht wieder mit schnellen Schritten davon.

      Wie benebelt sehe ich ihm hinterher. Ich achte auf jede Bewegung, die er macht, während er davongeht. Vielleicht erkenne ich ja etwas an seiner Gangart. Doch wie sollte ich? Ich habe den kleinen Jungen schon seit zehn Jahren nicht mehr gesehen, er läuft bestimmt nicht mehr wie ein Neunjähriger.

      Er wird immer kleiner und ich kämpfe mit mir selbst. Ich muss wissen, ob es wirklich Nathan ist. Doch gleichzeitig weiß ich nicht, ob es so eine gute Idee wäre, ihm zu folgen. Er wirkt so angespannt und genervt … Wie früher. Und heute ist er kein Achtjähriger mehr, heute würde er noch viel schlimmere Dinge zu mir sagen. Vielleicht würde er mir wehtun. Ich sollte ihm wirklich nicht folgen.

      Doch ich folge ihm trotzdem. Ich halte mich weit genug von ihm entfernt und hoffe, dass er mich nicht sieht. Ich weiß zwar nicht, wie genau ich so herausfinden soll, ob er Nathan ist, aber vielleicht läuft er ja zu einer Wohnung oder einem Haus, wo sein Name an der Klingel steht.

      Wenn er wirklich der kleine lockige Nathan aus der Grundschule ist, würden sich mir tausend Fragen im Kopf bilden. Mich interessiert schon seit Jahren, wieso er damals einfach verschwunden ist, wo er wohnt, was er so macht, wie es ihm so geht, wie er so ist? Ob er wirklich immer noch so ein Rebell ist wie früher? Gut vorstellbar ist es auf jeden Fall, denn er war gerade nicht wirklich nett zu mir.

      Zehn Minuten folge ich Nathan unauffällig durch ein paar Straßen und komme mir mehr als bescheuert vor. Mama wird mich bald anrufen, weil sie sich Sorgen macht, doch ich will einfach wissen, wer er ist.

      Er bleibt an einer Ecke stehen und lehnt sich dann an eine Hauswand. Er sieht sich um. Anscheinend wartet er auf irgendwen.

      Schnell verstecke ich mich hinter einem Auto mit einem guten Sicherheitsabstand von mindestens dreißig Metern. Ich überlege, wie es nun weitergehen soll. Er wird sich hier mit irgendwem treffen und dann gehen sie weg. So bekomme ich nie raus, wie er heißt. Wieso mache ich das überhaupt? Ich sollte schon längst zu Hause sein, es beginnt schon dunkel zu werden, außerdem soll Mama sich keine Sorgen machen.

      Doch meine Neugier ist größer als meine Vernunft. Mama muss warten.

      Ich beuge mich etwas an dem Auto vorbei und sehe wieder zu ihm. Er zündet sich gerade eine Zigarette an, dann bläst er den Rauch aus seiner Nase. Ob Nathan wirklich rauchen würde? Wahrscheinlich. Würde mich nicht wundern, wenn er nicht nur Tabak raucht.

      Ich sitze noch weitere fünf Minuten hinter dem Auto. Noch immer steht er an der Hauswand und scheint zu warten. Okay, das geht doch eigentlich ganz einfach. Ich mache es mir viel zu kompliziert. Bevor ich hier noch erfriere, mache ich es jetzt.

      Ich beuge mich wieder etwas an dem Auto vorbei und stelle auch klar, dass er mich definitiv nicht sehen kann, aber ich ihn. Ich atme tief ein und aus. Und dann: „Nathan!“ Schnell ducke ich mich ein wenig, doch luge noch so hervor, dass ich ihn sehen kann.

      Und tatsächlich. Er dreht sich verwirrt in meine Richtung.

      Er ist es!

      Ach du heiliger Himmel.

      Oder er heißt auch Nathan. Oder er hat nur geguckt, weil er sich erschreckt hat. Was rede ich da? Das wären zu viele Zufälle auf einmal. Dieser rauchende, schwarz gekleidete, große Junge ist definitiv der kleine achtjährige Junge aus meiner Kindheit.

      Da vorne steht wirklich dieser kleine Junge, der damals einfach verschwunden ist und wahrscheinlich die meist gehasste Person der Schule war. Dieser kleine, stille Junge mit den blauen Flecken und aufgeplatzten Lippen. Ich kann mich noch erinnern, dass er damals sogar ein wenig kleiner war als ich. Heute überragt er mich mehr als einen Kopf. Nathan war damals zwar schon sehr einschüchternd, doch das ist kein Vergleich zu heute. Er hat eine fast rabenschwarze Aura um sich herum.

      Während ich ihn weiter anstarre und nicht fassen kann, dass er tatsächlich er ist, klingelt plötzlich mein Handy. Oh, verdammt, das wird er definitiv hören, denn wir sind die einzigen Leute hier in dieser Straße. Hektisch krame ich mein Handy aus meiner Tasche und versuche, den Ton in meiner Jacke zu dämpfen, indem ich mich fast auf diese setze. Es ist Mama. Schnell gehe ich ran. „Ja, Mama?“, flüstere ich in die Leitung und sehe noch mal zu Nathan, um sicherzugehen, dass er mich nicht gehört hat. Er steht noch immer nur da, schmeißt seine Zigarette weg.

      „Wann hast du vor, nach Hause zu kommen?“, nörgelt meine Mutter. „Es ist schon halb sieben und du weißt, dass wir um sechs Uhr essen.“

      Seufzend setze ich mich auf den kalten Boden und lehne mich an das Auto. „Tut mir leid. Ich werde in einer halben Stunde zu Hause sein. Olivia und ich haben uns noch so lange unterhalten, du kennst sie ja“, lüge ich.

      „In Ordnung, aber sag doch das nächste Mal Bescheid, ich habe mir Sorgen gemacht. Vor allem wenn es dunkel ist.“

      „Mama, ich bin achtzehn.“

      „Na und? Dir kann immer etwas passieren, Liebling.“

      Ich schmunzle. „Wie immer hast du recht. Ich werde bald da sein, wartet nicht mit dem Essen.“

      Wir verabschieden uns und ich lege auf, schiebe das Handy in meine Jackentasche. Kurz schließe ich die Augen und lehne meinen Kopf an die Autotür hinter mir.

      Diese ganze Situation macht mich kirre. Dieser Typ aus der Apotheke, der gestohlen hat, ist Nathan. Wie war noch mal sein Nachname? Cort, genau, Cort. Wie könnte ich das je vergessen? Wahrscheinlich würde ich mich immer an ihn erinnern. Wenn ich zurückdenke, wie oft ich als kleines Mädchen versucht habe, Kontakt zu ihm aufzubauen und mit ihm zu spielen, weil er immer so allein und gebrochen aussah, und wie oft er mich abgeblockt und beleidigt hat, rutscht mir das Herz in die Hose. Das