mir leid“, piepse ich, als er aufsteht und in seiner ganzen Größe drei Meter von mir entfernt steht.
Kann es eigentlich noch mehr Zufälle geben? Erst begegne ich ihm in der Apotheke, dann rettet er mir in der Stadt das Leben und jetzt arbeitet er auch noch in dem Hotel meines Grandpas. Ich bin mir nicht sicher, wie ich damit umgehen soll. Sollte ich mich freuen, dass ich ihn vielleicht so besser kennenlernen kann, oder sollte ich Angst haben, dass er mich wieder beleidigt?
Er fährt sich kurz durch die nach oben gestylten Haare und mir fällt auf, dass ich ihn das erste Mal ohne Kapuze sehe. Eigentlich ist er attraktiv. Breite Schultern, schmale Hüften, markantes Kinn. Ich habe noch genau dieses kindliche Bild von ihm vor meinen Augen und heute steht ein erwachsener Mann mit Bartstoppeln vor mir. Es hat sich viel an ihm verändert, nur seine Augen sind genauso dunkel, wie damals. „Bist du Marie?“, fragt er mich, als ich kein Wort aus mir rausbekomme.
Ich nicke wie betäubt, erschrocken davon, dass er meinen Namen ausgesprochen hat.
Er legt seinen Schraubenschlüssel auf die Kochablage und wischt sich kurz mit der schmutzigen Hand über die Stirn, wo sich ein wenig Schweiß gebildet hat, während er auf mich zukommt.
Ich schrecke zusammen und gehe ihm sofort aus dem Weg, als er an mir vorbeigeht, weil er mir einfach auf eine gewisse Art und Weise Angst macht. Anscheinend ist Nathan es dennoch gewohnt, dass die Menschen so auf ihn reagieren, denn er geht gelassen weiter. Ich sehe ihm verwirrt hinterher. „Soll ich dir folgen?“, traue ich mich zu fragen.
„Was glaubst du denn?“
Schnell folge ich ihm durch die Halle. Er hat mich nicht mal erkannt und trotzdem ist er so unfreundlich. Anscheinend ist er zu jedem giftig. Wie kann Grandpa ihn hier arbeiten lassen, obwohl er so ein Stinkstiefel ist? Ob er sich vor Kunden auch so widerlich verhält?
Nathan öffnet eine Tür an der Wand und holt eine Art Staubsauger heraus und stellt ihn vor mir ab. „Du wirst die ganze Halle saugen.“
Ich blinzle und sehe den Staubsauger an. „Die ganze Halle?“
„Ja, die ganze Halle.“ Er geht wieder in den Raum und holt einen Eimer mit einem Putzlappen heraus. „Und danach wirst du die ganze Halle putzen.“
„Das werde ich alleine nie schaffen“, fiepe ich und sehe ihn entsetzt an.
Er verdreht die Augen und schließt die Tür. „Ich werde dir bei der Scheiße ganz bestimmt nicht helfen, ich habe selbst zu tun. Und … Moment mal.“ Nathan betrachtet mich etwas eindringlicher und ich sehe sofort weg. „Du bist doch … Ich fass es nicht. Verfolgst du mich?“
„Nein!“, platze ich sofort raus. „I-Ich … mein Grandpa ist der Inhaber des Hotels und … Ähm, ich soll hier über die Ferien arbeiten.“
Nathan sieht mich skeptisch an und scheint zu überlegen, ob ich die Wahrheit sage oder nicht. Wenn ich er wäre, wäre ich wahrscheinlich genauso unsicher. Ich komme mir selbst vor wie eine Stalkerin. „Wie auch immer“, sagt er schließlich gleichgültig und geht wieder. „Mach einfach deine Arbeit.“
Mit zusammengepressten Lippen sehe ich auf den Staubsauger und den Putzeimer. Okay, ich habe entschieden, dass ich es besser finden würde, wenn Nathan nicht da wäre. Ich hätte eher eine freundliche Begrüßung geschätzt als so pampige Worte von ihm, auch wenn ich weiß, dass das normal bei ihm ist. Wenigstens hier hätte er doch netter sein können. Ich kenne wirklich keinen einzigen Menschen, der je so barsch mit mir umgegangen ist.
Argwöhnisch nehme ich den Stiel des Staubsaugers in die Hand und suche das Kabel, um Strom zu bekommen. Ich möchte sofort wieder nach Hause. Nicht, weil ich keine Lust habe zu arbeiten, sondern einfach, weil Nathan mir so ein ungutes Gefühl vermittelt. Als ich nach fünf Minuten immer noch kein Kabel finden kann, bin ich dazu gezwungen, Nathan zu rufen. Ich habe kurz überlegt, Grandpa anzurufen und zu fragen, aber dann würde ich mir doof vorkommen.
Nathan kommt mit schweren Schritten aus der Küche und ich höre ihn schon von Weitem fluchen.
„Ich finde das Stromkabel nicht“, erkläre ich kleinlaut und zeige auf den Staubsauger.
Schweigend geht er darauf zu und drückt einen Knopf, woraufhin der Sauger anspringt.
Oh. Das hätte ich auch selbst finden können. Beschämt sehe ich von ihm weg und bin froh, jetzt nichts mehr sagen zu müssen, da der Staubsauger so laut ist.
Gereizt dreht er sich wieder um und will gerade weggehen, da geht der Staubsauger aus. Er dreht sich erneut zu mir und scheint mir mit seinen Augen vorzuwerfen, dass ich ihn ausgemacht hätte.
„Ich war das nicht!“, sage ich sofort. „Er ist einfach ausgegangen!“ Ich knie mich nach unten und drücke den Knopf. Nichts passiert. Ich drücke ihn erneut, und wieder und wieder. Er geht einfach nicht mehr an.
„Klasse“, knurrt Nathan und atmet tief ein und aus.
Als wäre es meine Schuld, sehe ich ihn entschuldigend an, obwohl ich dafür genauso wenig kann wie er. „Was soll ich jetzt machen?“
Kurz überlegt er, dann dreht er sich wieder weg und geht zur Küche: „Komm mit mir.“
Ich lege den Staubsauger beiseite und folge ihm gehorsam. Ich frage mich, welchen Posten er wirklich hier im Hotel hat. Er sollte jetzt neunzehn Jahre alt sein, normalerweise ist man da doch noch kein Hausmeister. Zumindest nicht allein. Es muss noch einen älteren, erfahreneren Hausmeister hier geben. Vielleicht ist Nathan auch nur Aushilfe. Schon wieder bilden sich zehntausend Fragen in meinem Kopf wie zum Beispiel, welchen Schulabschluss er hat oder wie er zu diesem Job gekommen ist.
Wir kommen in die Küche und Nathan drückt mir einen Putzlappen in die Hand, ohne mich auch nur anzusehen, und setzt sich wieder an seinen alten Arbeitsplatz unter der Spüle. Er ist anscheinend kein Verfechter von vielen Worten.
„Soll ich etwas säubern?“, frage ich, weil er mir keine Anweisung gegeben hat.
„Offensichtlich.“
Ich muss einen Seufzer unterdrücken. Ihm fehlt jegliches Benehmen. Anscheinend hat er mich noch immer nicht als Honor erkannt und theoretisch bin ich für ihn irgendein fremdes Mädchen, doch trotzdem ist er so … so kalt. Wenn er Mädchen kennt, dann müssen sie ihn hassen. Hat er Freunde? Geht er vielleicht nur mit Mädchen so gemein um? Schon wieder so viele Fragen.
Als ich gerade den Putzlappen auf einer Kochplatte ansetzen will, ertönt wieder Nathans Stimme. „Vielleicht solltest du den Lappen nass machen und Putzmittel benutzen, denkst du nicht?“
Verwirrt sehe ich zu ihm. Er hat seinen Kopf noch immer unter der Spüle, doch selbst wenn er mich nicht sieht, ist er gemein. Doch eigentlich hat er recht. Nathan bringt mich so durcheinander, dass ich sogar mit einem trockenen Lappen sauber machen wollte. Ich gehe zu dem Waschbecken, wo er gerade nicht am Werkeln ist und mache den Lappen nass. „Wo sind die Putzmittel?“, frage ich und erwarte schon die nächste unfreundliche Antwort.
„Mach die Augen auf.“ Da stehen sie.
Ich sehe mich um und erblicke sofort mehrere Putzmittel, die auf dem Herd stehen. Ich gebe ein wenig davon auf den Lappen.
„War nicht so schwer oder?“
„Ja“, hauche ich leise und wische über die Kochplatte. Am liebsten würde ich ihm sagen, dass er etwas netter zu mir sein könnte, doch ich schweige. Jedes Mal, wenn ich es ihm früher gesagt habe, war er noch gemeiner und ich bin mir fast sicher, dass er sich in dieser Richtung genauso wenig geändert hat.
Für eine Weile arbeiten wir einfach schweigend vor uns hin. Und schließlich breche ich die Stille. „Ich heiße übrigens Honor.“
Er sagt nichts dazu.
Nachdenklich verziehe ich den Mund. Okay, ich darf nicht aufgeben, er kann mich nicht die ganze Zeit ignorieren. „Also eigentlich heiße ich Honor-Marie. Meinen Nachnamen kannst du dir vielleicht schon denken, wegen meinem Grandpa“, witzle ich und lache etwas. Weil er immer noch nicht redet, frage ich: „Darf ich vielleicht deinen Namen