Charles Dickens

Die schönsten Weihnachtsgeschichten II


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Kaleb. »Ich werde noch ganz eitel.«

      »Ich glaube, du bist es schon!« rief das blinde Mädchen, ihm in ihrem Entzücken mit dem Finger drohend. »Ich kenne dich, Vater! Ha, ha, ha! Siehst du, da habe ich dich ertappt!«

      Wie ganz verschieden war das Bild in ihrem Geiste von dem Kaleb, wie er dasaß und sie beobachtete! Sie hatte von seinem leichten Schritt gesprochen. Damit hatte sie recht. Seit vielen Jahren hatte er nicht ein einziges Mal die Schwelle dieser Tür mit dem ihm natürlichen langsamen, schwerfälligen Gange überschritten, sondern mit einem erkünstelten Schritt, der das Ohr seines Kindes täuschen sollte, und niemals hatte er, wenn sein Herz auch noch so schwer war, diesen leichten Gang vergessen, der ihr Herz so froh und mutig machte!

      Nur Gott weiß es, aber ich glaube, Kalebs verwirrtes Wesen hatte zum Teil seinen Grund darin, daß er sich aus Liebe zu seiner blinden Tochter immer verstellt hatte. Wie hätte der kleine Mann nicht verwirrt sein sollen, nachdem er so viele Jahre daran gearbeitet hatte, seine eigene Identität und all die Gegenstände, die darauf Bezug hatten, zu zerstören!

      »So weit wären wir«, sagte Kaleb, ein paar Schritte zurücktretend, um sich besser von der Vortrefflichkeit seiner Arbeit überzeugen zu können: »der Wirklichkeit so ähnlich, wie eine halbe Mark einem Fünfgroschenstück. Wie schade, daß die ganze Front des Hauses auf einmal aufgeht! Wenn nur eine Treppe und ordentliche Türen da wären, um in die Zimmer zu gelangen! Aber das ist das Schlimme an meinem Beruf; ich betrüge und beschwindle mich in einem fort selbst.«

      »Du sprichst ja ganz leise, Vater. Bist du müde?«

      »Müde!« wiederholte Kaleb mit einem kräftigen Ausdruck von Energie. »Was sollte mich denn müde machen, Bertha? Ich bin noch nie müde gewesen. Was willst du damit sagen?«

      Um seinen Worten mehr Nachdruck zu geben, unterbrach er sich plötzlich, als er unwillkürlich zwei Kniestücke nachahmen wollte, die sich auf dem Kaminsims dehnten und gähnten, vollkommene Darstellungen ewiger Müdigkeit, und begann dann einen Vers eines Liedes zu summen. Es war ein Trinklied und handelte von etwas wie einem schäumenden Becher. Er sang es mit ganz verwegenem Schwung, der sein Gesicht noch tausendmal magerer und sorgenvoller als gewöhnlich erscheinen ließ.

      »Wie, was, Ihr singt!« sagte Tackleton, seinen Kopf zur Tür hereinsteckend. »Nur zu! Ich kann nicht singen.«

      In der Tat würde das niemand bei ihm vermutet haben. Sein Gesicht sah wirklich nicht nach Singen aus.

      »Ich kann mir den Luxus des Singens nicht gönnen«, sagte Tackleton. »Es freut mich, daß Ihr es könnt. Will nur hoffen, daß Euch das nicht am Arbeiten hindert. Beides läßt sich schwer vereinigen, scheint mir.«

      »Wenn du ihn nur sehen könntest, Bertha; wie er mir zunickt!« flüsterte Kaleb. »So ein Spaßmacher! Wenn du ihn nicht kenntest, so könntest du glauben, es sei ihm ernst, – nicht wahr?«

      Das blinde Mädchen lächelte und nickte.

      »Wenn der Vogel singen kann und nicht will, so muß man ihn zwingen, sagt das Sprichwort«, brummte Tackleton. »Wenn nun aber die Eule, die nicht singen kann und nicht singen soll, trotzdem singen will, – was muß man dann mit ihr machen?«

      »O, und wie er mir jetzt wieder winkt!« flüsterte Kaleb seiner Tochter ins Ohr. »O du grundgütiger Himmel!«

      »Immer fröhlich und gut gelaunt bei uns!« rief Bertha lachend.

      »Ah, bist du auch da, wirklich!« versetzte Tackleton. »Arme Blödsinnige!«

      Er glaubte in der Tat, sie sei schwachsinnig; und er gründete seinen Glauben – ich weiß nicht, ob bewußt oder unbewußt – darauf, daß sie ihn gern leiden mochte.

      »Wohlan . . . da du einmal da bist . . . wie geht's?« fragte Tackleton in seiner mürrischen Weise.

      »O gut, ganz gut! Und so glücklich, wie Sie es mir nur wünschen können. So glücklich, wie Sie die ganze Welt machen möchten, wenn Sie es könnten!«

      »Arme blödsinnige!« murmelte Tackleton. »Kein Funken Vernunft. Nicht ein Fünkchen!«

      Das blinde Mädchen ergriff seine Hand und küßte sie – sie hielt sie einen Augenblick zwischen ihren Händen und legte zärtlich ihre Wange darauf, bevor sie sie wieder losließ. Es lag in dieser Handlung etwas so unaussprechlich Zärtliches, eine so feurige Dankbarkeit, daß selbst Tackleton sich bewogen fand, in einem weniger rauhen Brummton zu sagen:

      »Na, was gibt's denn nun?«

      »Ich stellte es dicht neben mein Kopfkissen, als ich gestern Abend zu Bett ging und träumte dann davon. Und als der Tag anbrach und die herrliche rote Sonne – die rote Sonne, Vater?«

      »Rot am Morgen und am Abend, Bertha«, sagte der arme Kaleb mit einem traurigen Blick auf seinen Brotherrn.

      »Als sie aufging und das helle Licht, an das ich mich fast im Gehen zu stoßen fürchtete, in das Zimmer drang, wandte ich ihm den kleinen Rosenstock zu und dankte dem Himmel, daß er so schöne Dinge geschaffen, und segne Sie, daß Sie ihn mir geschenkt, um mich aufzuheitern.«

      »Das Tollhaus ist los!« murmelte Tackleton für sich. »Wir werden bald bei der Zwangsjacke und den Fausthandschuhen angekommen sein. Wir machen Fortschritte!«

      Kaleb, die Hände lose ineinandergelegt, starrte vor sich hin, während seine Tochter sprach, als ob er wirklich nicht sicher sei – und ich glaube, er war es auch nicht – ob Tackleton etwas getan, was ihren Dank verdiente oder nicht. Hätte er mit vollkommen freiem Willen handeln können, und hätte er in diesem Augenblick bei Todesstrafe sich dafür entscheiden müssen, den Spielwarenhändler mit Fußtritten fortzujagen, wie er es verdient hätte, oder sich ihm zu Füßen zu werfen, um ihm für seine Wohltaten zu danken, ich glaube, die Möglichkeit wäre nach beiden Seiten hin gleich groß gewesen. Und doch wußte Kaleb, daß er mit eigenen Händen so sorgsam den kleinen Rosenstock für sie mitgebracht, und daß er mit seinen eigenen Lippen die unschuldige Täuschung hervorgerufen hatte, die ihm helfen sollte, sie vor dem Gedanken zu bewahren, wie viele, wie so sehr viele Entbehrungen er sich täglich auferlegte, um sie glücklich zu sehen.

      Kaleb Plummer und seine blinde Tochter.

      »Bertha!« sagte Tackleton, dies eine Mal ein wenig Herzlichkeit in seine Stimme legend. »Komm mal her!«

      »O!« antwortete sie, »ich kann gerade auf Sie zukommen! Sie brauchen mich gar nicht zu führen!«

      »Soll ich dir ein Geheimnis mitteilen, Bertha?«

      »Wenn Sie wollen«, antwortete sie eifrig.

      Wie strahlend dieses umnachtete Antlitz wurde! Wie ein Lichtschein lag es über diesem lauschenden Haupt!

      »Heute ist der Tag, an dem die kleine, wie ist doch gleich ihr Name? – das verzogene Kind, Peerybingles Frau, euch ihren gewöhnlichen Besuch macht – ihr närrisches Picknick hier veranstaltet, nicht wahr«, sagte Tackleton mit einem starken Ausdruck von Widerwillen gegen die ganze Sache.

      »Ja«, sagte Bertha, »heut ist der Tag.«

      »Ich dacht' es mir!« versetzte Tackleton. »Nun wohl, ich möchte gern dabei sein.«

      »Hörst du, Vater!« rief das blinde Mädchen außer sich vor Freude.

      »Ja, ja, ich hör' es«, murmelte Kaleb mit dem starren Blicke eines Nachtwandlers; »aber ich glaub's nicht. Es ist gewiß wieder eine meiner Lügen (?=Selbsttäuschungen).«

      »Seht, ich . . . ich möchte die Peerybingles gern ein wenig mehr mit May Fielding zusammenbringen«, sagte Tackleton. »Ich habe beschlossen, May zu heiraten.«

      »Zu heiraten!« rief das blinde Mädchen, plötzlich von ihm zurückweichend.

      »Sie ist ein so entsetzlich blödsinniges Ding«, brummte Tackleton, »daß ich befürchte, sie würde nichts davon begreifen. Ja, Bertha, heiraten! Kirche, Pfarrer, Küster, Kirchenvogt, Staatskutsche, Glocken, Hochzeitsmahl, Hochzeitskuchen, Rosetten und Bänder und Polterabendmusik und all die übrigen Hanswurstereien. Eine Hochzeit,