Charles Dickens

Die schönsten Weihnachtsgeschichten II


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murmelte Tackleton. »Das ist mehr, als ich erwartet hatte. Nun gut, das ist der Grund, weshalb ich dabei sein und May und ihre Mutter mitbringen möchte. Ich werde am Vormittag die eine oder andre Kleinigkeit herschicken. Eine kalte Hammelkeule oder eine ähnliche kleine Erfrischung. Ihr erwartet mich also?«

      »Ja«, antwortete sie.

      Sie hatte ihren Kopf geneigt und wandte sich ab; und so stand sie nun da mit gefalteten Händen, unbeweglich und träumerisch.

      »Es scheint mir nicht, daß sie will«, murmelte Tackleton, indem er sie ansah, »denn es scheint mir, als ob sie es schon gänzlich wieder vergessen hätte . . . Kaleb!«

      »Ich darf mir wohl erlauben zu sagen, daß ich hier bin«, dachte Kaleb. »Was befehlt Ihr?«

      »Sorgt dafür, daß sie nicht vergißt, was ich ihr gesagt habe.«

      »O, sie vergißt nichts«, erwiderte Kaleb. »Das ist fast das einzige, was sie nicht versteht.«

      »Jeder hält seine Gänse für Schwäne«, bemerkte der Spielwarenhändler mit einem Achselzucken. »Armer Teufel!«

      Und nachdem er mit unendlicher Verachtung diese boshafte Bemerkung gemacht hatte, zog der alte Gruff und Tackleton ab.

      Bertha blieb an derselben Stelle, wo er sie gelassen hatte, stehen, ganz in trauriges Sinnen verloren. Die Fröhlichkeit war von ihrem gesenkten Antlitz verschwunden; eine tiefe Traurigkeit lag auf demselben. Drei- oder viermal schüttelte sie den Kopf, als traure sie über eine Erinnerung oder einen Verlust; aber ihr schmerzliches Nachdenken fand keine Worte, um sich Luft zu machen.

      Kaleb war seit einiger Zeit damit beschäftigt, ein Gespann Pferde vor einem Wagen zu befestigen, indem er durch ein höchst summarisches Verfahren das Geschirr an die edlen Teile ihrer Körper festnagelte; er war gerade fertig, als seine Tochter sich seinem Arbeitsstuhl näherte, sich neben ihn setzte und sagte:

      »Vater, ich bin ganz allein in der Finsternis. Ich bedarf meiner Augen, meiner geduldigen, immer willigen Augen.«

      »Hier sind sie«, sagte Kaleb. »Immer bereit. Sie gehören mehr dir als mir, in jedem Augenblick während der vierundzwanzig Stunden des Tages. Was sollen deine Augen für dich tun, mein gutes Kind?«

      »Blick' im Zimmer umher, Vater.«

      »Gern«, sagte Kaleb. »Gesagt, getan, Bertha.«

      »Beschreib es mir.«

      »Es ist genau so wie immer«, versetzte Kaleb. »Einfach aber sehr behaglich. An den Wänden die lebhaften Farben; auf Schüsseln und Tellern die glänzenden Blumen, das Holz poliert und glänzend überall, wo Balken und Getäfele sind, die allgemeine Heiterkeit und Sauberkeit der Wohnung machen es wirklich sehr hübsch.«

      Wirklich war es heiter und sauber überall, wo Berthas Hände geschäftig sein konnten. Aber sonst gab es nirgends Heiterkeit und Sauberkeit in der alten verfallenen Hütte, die Kalebs Phantasie so zu verwandeln wußte.

      »Du hast deinen Arbeitsrock an und bist nicht so elegant gekleidet, als wenn du deinen schönen Überzieher trägst?« fragte Bertha, indem sie ihm die Hand auf die Schulter legte.

      »Nicht ganz so elegant«, antwortete Kaleb. »Aber doch auch ganz hübsch.«

      »Vater«, sagte das blinde Mädchen, indem sie sich ihm näherte und unvermerkt einen Arm um seinen Hals legte, »erzähle mir etwas von May. Ist sie sehr schön?«

      »Das ist sie in der Tat«, sagte Kaleb.

      Und das war wirklich der Fall. Es war nur selten, daß Kaleb nicht zu seiner Phantasie die Zuflucht nehmen mußte.

      »Ihr Haar ist dunkel«, sagte Bertha nachdenklich; »dunkler als meines. Ihre Stimme ist süß und melodisch, das weiß ich. Ich habe sie oft und gern gehört. Ihre Gestalt . . .«

      »Im ganzen Zimmer ist keine Puppe, die mit ihr verglichen werden könnte«, sagte Kaleb. »Und ihre Augen . . .!«

      Er hielt inne; denn Bertha hatte ihn noch fester umschlungen, und von dem Arm, der ihn umgab, kam ein warnendes Zucken, das er nur allzu gut verstand.

      Er hüstelte einen Augenblick, hämmerte einen Augenblick und kam dann wieder auf das Lied von dem schäumenden Becher zurück – sein unfehlbares Hilfsmittel in allen Schwierigkeiten dieser Art.

      »Unser Freund, Vater, unser Wohltäter. Du weißt, ich werde nie müde von ihm zu hören, – oder ward ich's je?« setzte sie hastig hinzu.

      »Nein, gewiß nicht«, antwortete Kaleb; »und mit Recht.«

      »O, wie sehr mit Recht!« rief das blinde Mädchen mit solcher Begeisterung, daß Kaleb trotz der Reinheit seiner Absichten es nicht wagte, ihr ins Gesicht zu blicken, sondern die Augen zu Boden senkte, als hätte sie in denselben seine unschuldigen Lügen lesen können.

      »Dann erzähl' mir wieder von ihm, lieber Vater«, sagte Bertha. »Noch recht oft! Sein Gesicht ist wohlwollend, freundlich und liebevoll, aufrichtig und wahr, das weiß ich gewiß. Das männliche Herz, das all seine Wohltaten unter einer rauhen und widerwilligen Schale zu verbergen sucht, verrät sich in jedem seiner Züge.«

      »Und veredelt sie«, setzte Kaleb in seiner stillen Verzweiflung hinzu.

      »Und veredelt sie!« rief das blinde Mädchen. »Er ist älter als May.«

      »Ja-a«, sagte Kaleb zögernd. »Er ist ein wenig älter als May. Aber das hat gar nichts zu sagen.«

      »O doch, Vater! Seine geduldige Gefährtin in Gebrechlichkeit und Alter, seine sanfte Wärterin in Krankheiten, und seine treue Freundin in Kummer und Sorgen zu sein, keine Ermüdung zu kennen in der Arbeit für ihn, bei ihm zu wachen, ihn zu pflegen, an seinem Bett zu sitzen und mit ihm zu reden, wenn er wach ist, und für ihn zu beten, wenn er schläft welch großes Vorrecht würde das für seine Frau sein! Wie oft kann sie ihm alle ihre Treue und Ergebenheit beweisen! Und glaubst du, lieber Vater, daß sie dies alles tun wird?«

      »Ohne Zweifel«, sagte Kaleb.

      »Dann liebe ich sie, Vater; ich liebe sie von ganzem Herzen!« rief das blinde Mädchen.

      Und mit diesen Worten legte sie ihr armes blindes Antlitz auf Kalebs Schulter und weinte so bitterlich, daß es ihn fast gereute, sie in ein so tränenvolles Glück versetzt zu haben.

      * * *

      Um dieselbe Zeit hatte es bei John Peerybingle viel Trubel gegeben. Denn die kleine Mrs. Peerybingle konnte natürlich nicht daran denken, irgendwohin zu gehen ohne das Baby, und das Wickelkind flottmachen erforderte Zeit. Nicht, daß das Baby viel zu schaffen gemacht hätte hinsichtlich des Gewichtes und des Umfanges, aber es gab unendlich viel daran zu tun, und das alles mußte vorsichtig und langsam gemacht werden. Zum Beispiel wenn das kleine Kind endlich mit Ach und Weh so weit mit seiner Toilette fertig war, und man vernünftigerweise hätte voraussetzen können, im Handumdrehen werde es fix und fertig auf und in ein solches Prachtexemplar von einem Wickelkind verwandelt sein, daß es kühn die ganze Welt hätte herausfordern können, ob je eins schöner war, so wurde es ganz plötzlich in ein Flanellmützchen versteckt und zu Bett gebracht, wo es zwischen zwei Decken nahezu eine Stunde lang schmorte, wenn ich mich so ausdrücken darf. Aus diesem Zustande der Untätigkeit wurde es dann, rot wie ein Krebs und indem es laut schrie, wieder herausgerissen, um teilzunehmen an – na, ich möchte sagen, wenn ihr mir erlauben wollt, mich so allgemein auszudrücken – an einer kleinen Mahlzeit. Alsdann ging es wieder schlafen. Mrs. Peerybingle nahm dies Intermezzo wahr, um sich in ihrer Weise so schmuck herauszuputzen, wie ihr es euch nur vorstellen könnt; und während desselben kurzen Waffenstillstandes arbeitete Fräulein Tolpatsch in einem Gewand von so überraschender und sinnreicher Form, daß es weder zu ihr, noch überhaupt zu irgendeinem Menschenkinde in irgendeiner Beziehung stand; es war ein so zusammengeschrumpftes, hundsohrenartig herabhängendes Etwas, das seinen einsamen Gang ohne die mindeste Rücksicht auf seine Trägerin ging. Jetzt wurde das Baby, das bereits wieder wach geworden war, durch die vereinten Bemühungen von Mrs. Peerybingle und Tilly mit einem butterfarbigen Mäntelchen und einer pastetenförmigen