Clochard Raade

Das wundersame Leben des Justin Hoppa


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einem Schnapsglas brütend Herr Bill Silles. Zu seinen Füßen lag ein weißer, gelbäugiger Hund, der bald seinem Herrn zublinzelte, bald eine an der Seite seiner Schnauze befindliche große, frische Wunde leckte.

      "Ruhig, du Biest!" rief plötzlich Herr Silles und gab dem Hunde einen Fußtritt. Dieser biss ihn dafür in den Stiefel und zog sich dann knurrend unter eine Bank zurück. Dies entflammte Herrn Silles Zorn mächtig. Er kniete nieder und begann das Tier mit einem Feuerhaken aufs wütendste anzugreifen. Der Hund sprang, schnappend und knurrend bald nach rechts, bald nach links. Der Kampf schien eben für den einen oder den anderen der beiden Kämpfer eine bedenkliche Wendung nehmen zu wollen, als plötzlich die Tür aufging. Der Hund schoss sofort hinaus und ließ Herrn Silles allein. Zu einem Streite gehören wenigstens zwei, sagt das Sprichwort, und da der Hund entkommen war, band Herr Silles mit dem Eintretenden an.

      "Was zum Teufel erlaubst du dir, zwischen mich und meinen Hund zu treten?" fragte Silles grob.

      "Das hab ich doch nicht gewusst, wirklich nicht", antwortete Morgan demütig - denn der neue Gast war niemand anders als der Russe.

      "Nicht gewusst, Spitzbube?" brummte Silles unwirsch.

      "Hast du denn den Radau nicht gehört?"

      "Keinen Ton, so wahr ich lebe", entgegnete der Russe.

      "Ja, ja, du hörst nie etwas", sagte Silles mit Hohnlachen, "ebenso wenig wie man dich hört, wenn du rein und raus schleichst. Ich wünschte nur, du wärst vor einer Minute der Hund gewesen!"

      "Warum?" fragte der Russe mit gezwungenem Lächeln.

      "Darum, weil das Gesetz einem nicht verbietet, seinen

      Hund abzumurksen, während es um das Leben von Leuten deines Schlages besorgt ist, die nicht halb so viel

      wert sind als ein Köter", entgegnete Silles grimmig.

      Der Russe rieb sich die Hände und setzte sich an den Tisch nieder. Obgleich ihm nicht besonders wohl zumute war, zwang er sich doch zu einem Lächeln über den "Scherz" des Freundes.

      "Ja, grinse nur", sagte Silles, "grinse nur immerzu. Über mich wirst du nicht lachen, ich habe dich in der Hand, Morgan, und der Teufel soll mich holen, wenn ich dich aus den Fingern lasse. Geh' ich verloren, so gehst du auch. Also passe gut auf, dass sie mich nicht kriegen!"

      "Schon gut, mein Lieber", entgegnete der Russe, "wir haben das gleiche Interesse, ich weiß das ganz genau, Bill, dasselbe Interesse."

      "Na schön", sagte Silles, dem es so vorkam, als sei das Interesse mehr auf Seite des Russen, "was hast du mir eigentlich zu sagen?"

      "Es ist alles glücklich durch den Schmelztiegel gewandert", antwortete der Russe, "und dies ist Euer Anteil. Es ist zwar etwas mehr, als Euch zusteht, Bill, aber da ich weiß, dass Ihr mir ein andermal wieder gefällig sein werdet, so-"

      "Hör bloß mit dem Geschmuse auf", fiel der Dieb ungeduldig ein. "Wo ist es ? Rücke es heraus!"

      "Ja doch, Bill, einen Augenblick", entgegnete der Russe begütigend. "Hier ist es - bei Heller und Pfennig."

      Er brachte ein kleines, in braunes Papier eingeschlagenes Päckchen zum Vorschein, das ihm Silles aus den Händen riss und hastig öffnete. Nachdem er die darin befindlichen Goldstücke gezählt hatte, fragte der Dieb:

      "Ist das alles?"

      "Jawohl", antwortete der Russe.

      "Hast du auch unterwegs das Päckchen nicht aufgemacht und ein paar Stücke verdrückt?" fuhr Silles argwöhnisch fort. "Stell dich nur nicht beleidigt, es wäre nicht das erste mal, klingele mal..."

      Morgan setzte den Klingelzug in Bewegung, und kurz darauf trat ein anderer Russe ein. Jünger zwar als Morgan, aber ebenso spitzbübisch und abstoßend in seinem Äußern. Bill zeigte nur auf die leere Kanne, worauf der Russe, der den Wink verstand, sich entfernte, um sie wieder zu füllen. Beim Herausgehen hatte er jedoch Morgan einen bedeutungsvollen Blick zugeworfen, den dieser mit einem leichten Kopfschütteln beantwortete. Diese Zeichensprache ging Silles verloren, da er sich gerade zufällig bückte. Hätte er sie bemerkt, würde er wohl wenig Gutes für sich selber daraus gefolgert haben.

      "Ist jemand hier, Barnie?" fragte Morgan den wieder eintretenden Russen.

      "Nur Fräulein Lancy", erwiderte dieser.

      "Lancy?" rief Silles. "Ein patentes Mädel."

      "Ja, sie ist drinnen am Büfett und hat sich einen Teller Rindfleisch geben lassen", bemerkte Barnie.

      "Schick sie her! Schnell!" rief Silles.

      Barnie warf einen fragenden Blick auf Morgan, da ihm dieser aber kein Zeichen gab, so entfernte er sich und kehrte bald mit Lancy zurück.

      "Du bist ihm auf der Spur, Lancy, nicht wahr?" fragte Silles und bot ihr ein Glas Schnaps an.

      "Ja, Bill", entgegnete die junge Dame und leerte das Glas mit einem Zuge. "Mühe genug hat es gekostet. Der Junge ist krank gewesen und musste das Bett hüten, dann -"

      "Sie sind ein Prachtmädel, Lancy!" sagte Morgan. Ein Augenblinzeln des Russen warnte das Mädchen vor allzu großer Offenheit. Sie lenkte deshalb das Gespräch mit Herrn Silles auf andere Gegenstände und erklärte nach ungefähr zehn Minuten, gehen zu müssen. Herr Silles bemerkte, dass er denselben Weg habe, und sie gingen zusammen fort. Der Hund folgte in einiger Entfernung seinem Herrn. Nachdem Silles das Zimmer verlassen hatte, schüttelte Morgan die geballte Faust hinter ihm her und murmelte einen schweren Fluch. Dann setzte er sich wieder an den Tisch und vertiefte sich in die Lektüre des Londoner Kriminalanzeigers. Inzwischen eilte Justin Hoppa dem Bücherladen zu und dachte darüber nach, wie glücklich und zufrieden er jetzt sei. Aus diesen Träumereien wurde er durch den Ruf geschreckt:

      "oh, mein lieber Bruder". und fühlte gleichzeitig seinen Hals von einem Paar weiblichen Armen umschlungen.

      "lassen Sie mich los", rief Justin sich wehrend. "Was wollen Sie denn von mir? Warum halten Sie mich auf?"

      Die einzige Antwort hierauf war seitens des Mädchens:

      "Gott sei Dank, ich habe ihn gefunden! Oh Justin, böser Junge, wie viel Kummer hast du mir bereitet. Komm nach Hause, Liebling, komm! Ich bin ja so froh, ihn gefunden zu haben."

      Das junge Mädchen brach in Tränen aus und bekam so schreckliche Krämpfe, dass ein paar dabeistehende Weiber einen vorübergehenden Fleischerlehrling fragten, ob er es nicht für richtiger hielte, zum Arzt zu laufen. Der Lehrling, wenn auch nicht gerade gefühllos, schien aber ein ziemlich träger Bursche zu sein, denn er erwiderte, seiner Ansicht nach wäre das nicht nötig.

      "Mir ist schon wieder besser", sagte das Mädchen und nahm Justin bei der Hand. "Aber nun komm schnell mit mir nach Hause, du böser, böser Junge, du!"

      "Was ist denn los?" fragte eine der Frauen.

      "Ach, er ist vor ungefähr vier Wochen seinen Eltern, arbeitsamen und achtbaren Leuten, entlaufen und hat sich einer Diebesbande angeschlossen. Der armen Mutter ist darüber fast das Herz gebrochen."

      "Geh nach Hause, Bösewicht", schrien die Weiber.

      "Solch ein verdammter Bengel."

      "Das ist nicht wahr", rief Justin in großer Angst , "Ich kenne sie gar nicht. Ich habe weder Schwester noch Vater, noch Mutter. Ich bin eine Waise und wohne in Keatonville."

      "Lieber Gott, wie frech er schon geworden ist", schluchzte das junge Mädchen.

      "Ach, Lancy!" schrie Justin, entsetzt zurückfahrend, als er ihr ins Gesicht sah.

      "Ihr seht, er kennt mich", sagte Lancy zu den Umstehenden. "Er kann es nicht leugnen. Helft mir, gute Leute, ihn nach Hause bringen, sonst sterben seine armen Eltern noch vor Kummer und Sorge, und mir bricht er das Herz."

      "Donnerwetter, was ist los?" rief ein Mann, der aus einer Kneipe stürzte. "Ach, der junge Justin, komm nach Hause zu deiner armen Mutter, du Galgenstrick. Sofort gehst du mit!"

      "Ich gehöre nicht zu ihnen. Ich kenne sie nicht. Hilfe!