Clochard Raade

Das wundersame Leben des Justin Hoppa


Скачать книгу

wäre."

      "Das war das Fieber, mein lieber Junge", sagte die alte Dame sanft.

      "Wahrscheinlich", erwiderte Justin, "denn der Himmel ist weit weg, und man ist dort zu glücklich, als dass Engel an das Bett eines armen Jungen herunterkommen sollten. Aber wenn meine Mutter wusste, dass ich krank war, so musste sie doch selbst im Himmel mit mir Mitleid haben. Denn sie war selbst sehr krank, ehe sie starb. Aber vielleicht weiß sie nichts von mir", fügte Justin nach kurzem Schweigen hinzu, "denn wenn sie gesehen hätte, wie man mich schlug, so muss sie traurig gewesen sein. Ach, ihr Gesicht sah immer so lieb und glücklich aus, wenn ich von ihr träumte."

      Die alte Dame sagte nichts, aber wischte sich gerührt die Augen. Dann streichelte sie ihm die Backen und ermahnte ihn, ganz ruhig zu liegen, damit es nicht wieder schlimmer werde. Justin verhielt sich daher still und fiel bald in einen sanften Schlaf. Aus diesem wurde er erst durch einen Herrn geweckt, der an seinem Bette stand und seinen Puls fühlte.

      "Nicht wahr, mein Kind, du fühlst dich bedeutend wohler?" fragte der Herr.

      "Ja, ich danke", entgegnete Justin.

      "Das wusste ich", fuhr der Herr fort. Du hast auch Hunger, nicht wahr?"

      "Nein, Herr", antwortete Justin.

      "Hm! Ich wusste ja, du könntest nicht hungrig sein. Er hat keinen Hunger, Frau Lessow", sagte der Herr mit weiser Miene. Die alte Dame neigte ehrfurchtsvoll den Kopf, womit sie andeuten wollte, dass sie den Doktor für einen sehr klugen Mann halte. Der Doktor schien so ziemlich dieselbe Meinung von sich zu haben.

      "Du möchtest schlafen, nicht wahr, mein Kind?" sprach der Doktor.

      "Nein, Herr."

      "Nicht?" entgegnete der Doktor mit einem zufriedenen Blick.

      "Du fühlst dich also nicht schläfrig? Auch nicht

      durstig, wie?"

      "Ja, Herr, durstig sehr."

      "Genau, wie ich es erwartete, Frau Lessow", sagte der Doktor. Es liegt in der Natur der Sache, dass er Durst

      hat. Sie können ihm etwas Tee geben und eine geröstete Brotschnitte, aber ohne Butter. Halten Sie ihn nicht zu warm, Frau Lessow, aber passen Sie gut auf, dass er sich nicht erkältet."

      Frau Lessow knickste, und der Doktor verabschiedete sich. Justin schlief bald darauf wieder ein, und als er erwachte, war es beinahe Mitternacht. Frau Lessow sagte ihm freundlich gute Nacht und überließ ihn der Obhut einer dicken alten Frau, die eben gekommen war. Diese erzählte Justin, dass sie die Nacht bei ihm wachen werde, und setzte sich eine große Nachtmütze aufs Haupt. Nachdem sie sich ihren Stuhl dicht an den Kamin gezogen und ein Gebetbuch vor sich auf den Tisch gelegt hatte, fing sie an langsam ein zunicken. In zehn Minuten war sie fest eingeschlafen. Justin lag noch einige Zeit wach, dann fiel er in jenen tiefen und ruhigen Schlaf, den nur das Genesungsstadium schwerer Krankheiten zu geben vermag. Als Justin die Augen öffnete, war es bereits heller, lichter Tag. Er fühlte sich froh und glücklich. Die Krise war vorüber, er gehörte wieder der Welt an. Nach drei Tagen konnte er schon, allerdings durch Kissen gestützt, in einem Lehnstuhl sitzen. Frau Lessow hatte ihn in ihr eigenes Zimmer bringen lassen und fing vor Freude, ihn auf dem Weg zur Genesung zu sehen, laut zu weinen an.

      "Kümmere dich nicht darum, Liebling", sagte die alte Frau, "ich muss mich einmal recht ausweinen. Jetzt ist schon alles wieder vorüber, und mir ist leichter."

      "Sie sind auch zu gut zu mir", sagte Justin.

      "lass gut sein, liebes Kind", entgegnete Frau Lessow. "Nun ist es aber Zeit, dass du deine Fleischbrühe kriegst. Der Doktor sagte, Herr Braunau werde dich vielleicht heute Vormittag besuchen."

      Sie machte ihm eine kräftige Brühe zurecht und beobachtete dabei, dass Justin sein Auge aufmerksam auf ein Porträt geheftet hatte, das seinem Stuhle gegenüber an der Wand hing.

      "Hast du Bilder gern, Liebling?" fragte sie.

      "Ich weiß nicht, ich habe noch zu wenig gesehen. Aber wie schön und sanft ist das Gesicht der Dame."

      "Ach", sagte Frau Lessow, "die Maler machen die Damen immer hübscher als sie sind, sonst würden sie keine Kundschaft kriegen."

      „Stellt es jemand vor?"

      „Ja, es ist ein Porträt."

      „Von wem?" fragte Justin lebhaft.

      „Ja, das kann ich dir nicht sagen. Es scheint dir zu gefallen, Kind?"

      „Es ist so schön!"

      "Aber du fürchtest dich doch nicht davor?" sagte Frau Lessow, als sie verwundert den ängstlichen Blick bemerkte, mit dem das Kind das Gemälde betrachtete.

      "O nein", erwiderte Justin rasch, "aber die Augen blicken so traurig und sind immer auf mich gerichtet; wo ich auch sitzen mag. Mir ist immer so, als sei das Bild lebendig und wolle mit mir sprechen, könne aber nicht."

      "Um Himmelswillen!" rief Frau Lessow aufspringend, "sprich nicht so, Kind. Du bist noch schwach und angegriffen von deiner Krankheit. Ich werde. Deinen Sessel herumdrehen, dann kannst du es nicht mehr sehen!"

      Justin sah es jedoch im Geiste so deutlich, ab ob der Sessel nicht gerückt worden wäre. Da er aber die alte Dame nicht kränken wollte, so lächelte er ihr freundlich zu, als sie ihn anblickte. Jetzt ließ sich ein leises Pochen an der Tür vernehmen.

      "Herein!" rief Frau Lessow, und ins Zimmer trat Herr Braunau.

      Justin machte einen vergeblichen Versuch aufzustehen, um seinen Wohltäter zu begrüßen, dem die Tränen in die Augen traten.

      "Armer Junge, armer Junge", sagte er, "wie geht es dir heute?"

      "Sehr gut, Herr", entgegnete Justin, "und ich danke Ihnen auch für die große Güte, mit der Sie sich meiner

      angenommen haben."

      "Du bist ein guter Junge", sagte Herr Braunau, mit seinen Tränen kämpfend. "Was haben Sie ihm zu essen

      gegeben, Frau Lessow? Wohl eine leichte Brühe?"

      "Er hat eben einen Teller herrlicher, kräftiger Fleischbrühe bekommen" sagte Frau Lessow etwas empfindlich.

      "Hm", meinte Herr Braunau mit leichtem Achselzucken, "ein paar Gläser Portwein hätten ihm vielleicht besser getan. Wie denkst du darüber, Tim Waste?"

      "Ich heiße Justin, Herr", entgegnete der kleine Patient etwas verwundert.

      "Justin?" fragte Herr Braunau. "Justin? - also Justin Waste?"

      "Nein, Hoppa, Justin Hoppa."

      "Seltsamer Name. Warum sagtest du aber dem Richter, du heißt Waste?"

      "Das habe ich ihm doch nicht gesagt", erwiderte Justin erstaunt. Dies klang wie eine Lüge, so dass der alte Herr ihn strenge ansah. Es war aber unmöglich, die Aussage des Jungen zu bezweifeln, denn auf Justins Stirn war die Wahrheit geschrieben.

      "Ein Missverständnis also", bemerkte Herr Braunau. Er behielt aber Justin fest im Auge, da der frühere Gedanke einer Ähnlichkeit zwischen seinen Zügen und irgendeinem bekannten Gesicht sich ihm wieder aufdrängte.

      "Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse?" sagte Justin mit bittendem Augenaufschlag.

      "Nein, nein - aber - großer Gott, was ist das? Frau Lessow, sehen Sie - da!" schrie der alte Herr. Er deutete hastig auf das Porträt und dann auf Justin. Die Ähnlichkeit war frappierend. Justin entging die Ursache von Herrn Braunaus plötzlichem Ausruf und hatte einen furchtbaren Schrecken gekriegt. Er war ohnmächtig geworden.

      Nachdem der Ludok und sein trefflicher Freund mit Befriedigung festgestellt hatten, dass die Menge in Justin den vermeintlichen Dieb sah, und für sie nichts mehr zu befürchten war, machten sie sich auf den Heimweg.

      "Was wird Morgan sagen?" meinte der Ludok mit ernstem Gesicht.

      "Na, was wird er sagen?" erwiderte Gunter Bund.

      "Schließlich den Kopf kann er uns nicht abreißen",