Clochard Raade

Das wundersame Leben des Justin Hoppa


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Bund fand in dieser Antwort etwas so unwiderstehlich Komisches, dass er abermals in ein schallendes Gelächter ausbrach. Er wäre dabei fast erstickt, da er gerade den ganzen Mund voll Kaffee hatte. "Er ist doch gar zu naiv!" sagte Gunter gleichsam als Entschuldigung für sein unhöfliches Benehmen. Der Ludok strich Justin über das Haar und sagte, er würde es schon noch lernen. Als der Russe sah, dass Justin rot wurde, brachte er das Gespräch auf einen anderen Gegenstand. Er fragte, ob bei der heutigen Hinrichtung viele Leute da waren. Aus den Antworten der beiden Jungen ging hervor, dass sie auch zugeguckt hatten. Justin wunderte sich deshalb nicht wenig, wie sie trotzdem noch soviel hatten arbeiten können. Als sie fertig mit Frühstücken waren, spielte der lustige alte Herr mit den beiden Jungen ein gar seltsames Spiel. Der Alte steckte nämlich eine Tabakdose in die eine und eine Brieftasche in die andere Hosentasche. Eine Uhr, die an einer um den Hals geschlungenen Kette hing, brachte er in seiner Westentasche unter. An sein Hemd befestigte er eine unechte Brillantnadel. Dann knöpfte er den Rock fest zu, verstaute sein Brillenfutteral und das Schnupftuch in den Rocktaschen. Mit einem Stock in der Hand, ging er im Zimmer auf und ab, ganz so wie man alte Herren in den Straßen der Stadt umher schlendern sieht. Er blieb hin und wieder bei dem Kamin oder bei der Tür stehen und tat so, als ob er aufmerksam ein Schaufenster anschaute. Dabei guckte er sich aber immer um, als wenn er sich vor Dieben fürchtete. Von Zeit zu Zeit klopfte er auf die Taschen, um sich zu überzeugen, dass er nichts verloren habe. Er meinte die Sache so natürlich, dass Justin lachen musste, und zwar lachte er derart, dass ihm die Tränen über die Backen liefen. Die ganze Zeit über waren die beiden Jungen dem alten Herrn gefolgt. Sobald er sich jedoch umdrehte, zogen sie sich mit unnachahmlicher Geschwindigkeit zurück. Schließlich trat ihm der Ludok auf die Zehen, oder strauchelte wie zufällig über seinen Stiefel, während Gunter Bund ihn von hinten anrempelte. In diesem Augenblick entwendeten sie ihm mit außerordentlicher Geschicklichkeit die Tabaksdose, Brieftasche, Brosche, Uhr, Taschentuch und sogar das Brillenfutteral. Fühlte der alte Herr eine Hand in einer seiner Taschen, so kündigte er das durch einen Schrei an, und das Spiel begann von neuem. Das wäre so eine ganze Weile weitergegangen, wenn nicht ein paar Damen erschienen, die die jungen Herren besuchen wollten. Eine hieß Betty, die andere Lancy. Sie hatten üppiges Haar, waren aber nicht ordentlich frisiert. Ihre Schuhe und Strümpfe waren im schlechten Zustande. Hübsch konnte man die Mädchen eigentlich nicht nennen, aber sie hatten ein frisches Aussehen und sympathische Gesichtszüge. Auch benahmen sie sich so gefällig und ungezwungen, dass sie Justin für recht artige Mädchen hielt, was sie ohne Zweifel auch waren. Die Besucherinnen blieben ziemlich lange. Man trank Schnaps und die Unterhaltung wurde bald sehr heiter und lebhaft. Schließlich meinte Gunter, es wäre Zeit sich auf die Socken zu machen, was nach Justins Vermutung ein Ausdruck für Ausgehen sein musste, denn unmittelbar danach brachen alle vier auf, nachdem der freundliche alte Russe ihnen noch vorher reichlich Geld gegeben hatte. Als sie fort waren, sagte Morgan:

      "Nicht wahr, das ist ein lustiges Leben?"

      "Haben sie denn ihre Arbeit schon getan?"

      „Ja“ erwiderte der Russe, "das heißt, wenn sie nicht zufällig unterwegs neue bekommen. Die nehmen sie natürlich mit, darauf kannst du dich verlassen. An denen kannst du dir ein Beispiel nehmen, besonders an dem Ludok. Der wird noch mal werden ein großer Mann und auch dich zu einem machen, wenn du ihm zum Vorbild nimmst - Hängt mir übrigens das Schnupftuch aus der Tasche?"

      "Jawohl."

      "Versuch doch mal es herauszuziehen, ohne dass ich es merke. Du hast ja heute Mittag gesehen, wie man es machen muss."'

      Justin machte es so, wie er es beim Ludok gesehen hatte.

      "Hast du es?" fragte der Russe.

      "Hier ist es, Herr."

      "Du bist ein gewandter Bursche", sagte der alte Herr und fuhr mit der Hand über Justins Haar. "Ich habe niemals einen gelehrigeren Jungen gesehen. Hier hast du einen Schilling. Mach nur weiter so , dann wirst noch der größte Mann deiner Zeit werden. Und nun werde ich dir zeigen, wie man die Namen aus den Schnupftüchern macht."

      Justin konnte nicht recht begreifen, wie er dadurch, dass er dem alten Herrn im Scherze das Schnupftuch aus der Tasche gezogen hatte, ein großer Mann werden könne. Er dachte aber, der Russe müsse das besser wissen, war dieser doch um soviel älter als er. Er machte sich also unbekümmert daran, die Buchstaben aus den Taschentüchern zu entfernen.

      Justin macht bittere Erfahrungen

      Justin blieb eine Reihe von Tagen dauernd im Zimmer des Russen und fing an, sich nach frischer Luft zu sehnen. Er machte die Zeichen aus den Taschentüchern heraus, die in ziemlich großer Zahl ins Haus gebracht wurden. Hin und wieder nahm er auch an dem erwähnten Spiel teil, das Morgan regelmäßig jeden Tag nach dem Frühstück mit den beiden Jungen aufführte. Justin hatte den alten Herrn oftmals gebeten, mit Jack und Gunter gemeinsam auf Arbeit ausgehen zu dürfen, endlich erhielt er die ersehnte Erlaubnis. Da seit einigen Tagen keine Schnupftücher da waren, an denen Justin hätte arbeiten können, so gab der alte Herr wohl aus diesem Grunde seine Zustimmung. Die drei Jungen zogen los und schlenderten gemächlich die Straße entlang. Justin fand keinen Geschmack an dem langsamen Gang seiner Genossen und kam auf die Vermutung, dass sie den alten Herrn betrögen und der Arbeit aus dem Wege gingen. Der Ludok hatte außerdem noch die üble Gewohnheit, kleinen Jungen die Mütze vom Kopf zu reißen, während Gunter Bund ziemlich freie Ansichten hinsichtlich des Eigentumsrechts an den Tag legte. Von den Ständen der Straßenhändler ließ er hier einen Apfel, dort eine Zwiebel verschwinden. Dies missfiel unserm Justin so sehr, dass er gerade zu erklären beabsichtigte, er wolle nach Hause gehen, als er durch das eigenartige Benehmen des Ludoks von diesem Vorhaben abgebracht wurde. Dieser stand plötzlich still, legte den Finger an die Lippen und hielt seine Genossen zurück.

      "Was ist los?" fragte Justin.

      "Pst!" machte der Ludok. "Siehst du jenen alten Knacker an der Bücherbude?"

      "Den alten Herrn da drüben? Ja, den sehe ich."

      "Bei dem wollen wir arbeiten", sagte Hopkins.

      "Scheint erstklassig zu sein", bemerkte Gunter.

      Justin guckte in größter Überraschung von einem auf den anderen. Die beiden Jungen gingen unauffällig auf die andere Straßenseite und schlichen sich dann dicht hinter den alten Herrn. Justin harrte mit stummer Verwunderung der weiteren Vorgänge. Der alte Herr schien den besseren Kreisen anzugehören, trug Puder in den Haaren und hatte eine goldene Brille auf. Er hatte sich aus einem Regal ein Buch genommen und sich so ins Lesen vertieft, als säße er zu Hause in seinem Lehnstuhl. Möglich, dass er dort zu sein wähnte, denn er war offensichtlich durch die Lektüre so abgelenkt, dass er weder für die Straße noch für die Jungen ein Auge übrig hatte. Man denke sich Justins Entsetzen, als er sah, wie der Ludok dem alten Herrn das Schnupftuch aus der Tasche zog und es dann Gunter Bund zusteckte. Im Augenblick war ihm das Geheimnis der Taschentücher, der Uhren und Kleinodien des Russen klar. Als er die beiden wegrennen sah, fing er auch aus Leibeskräften zu laufen an. Doch gerade als Justin Reißaus nahm, griff der alte Herr nach seinem Tuch in die Tasche und wandte sich rasch um, als er es nicht finden konnte. Wie er nun den Jungen so Hals über Kopf davonlaufen sah, kam er auf den naheliegenden Gedanken, dass dieser ihn bestohlen hätte. Das Buch in der Hand haltend, lief er mit dem Ruf: "Haltet den Dieb!" hinter ihm her. Doch. er war nicht der einzige, der dieses Geschrei erhob. Der Ludok und Gunter Bund hatten, um nicht durch Rennen aufzufallen, sich in den ersten besten Torweg an der Ecke zurückgezogen. Sobald sie das Gebrüll: "Haltet den Dieb" vernahmen und Justin laufen sahen, errieten sie schnell den Zusammenhang. Sie schlossen sich dessen Verfolgern an und riefen kräftig mit.

      "Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!" Es liegt ein Zauber in diesem Rufe. Der Krämer verlässt seinen Ladentisch, der Kutscher seinen Wagen, der Schlächter seine Fleischbank, der Bäcker seinen Trog, der Milchmann seine Kannen, der Junge seine Murmel, der Steinsetzer seine Ramme, der Straßenhändler seinen Karren und das Kind seine Fibel. Alles eilt, Hals über Kopf, im hellen Haufen fort, schreit, brüllt, überrennt ruhige Spaziergänger und macht die Hunde wild. Straßen, Gassen, Höfe - alles hallt von dem Rufe wider.

      "Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!" Die Leidenschaft, etwas zu