Clochard Raade

Das wundersame Leben des Justin Hoppa


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und große Schweißtropfen im Gesicht, strengt alle seine Kräfte an, den Verfolgern einen Vorsprung abzugewinnen. Man lässt aber nicht von ihm ab. Jeden Augenblick rückt man ihm näher. Je mehr seine Kräfte sinken, desto lauter wird der Lärm, das Gebrüll und der Ruf: "Haltet den Dieb!"

      Endlich ist er eingeholt, niedergeschlagen und liegt auf dem Pflaster. Die Menge drängt sich um ihn. Jeder will den Verbrecher sehen.

      "Tretet zurück!" "lasst ihn doch zu Atem kommen!"

      "Ach was, er verdient es nicht!" "Wo ist der Herr?"

      "Da. er kommt die Straße herunter." "Platz für den Herrn!" "Ist das der Junge, Herr?" "Ja."

      Justin lag, ganz beschmutzt, mit blutendem Munde da. Er blickte verwirrt auf die ihn umgebende Menge.

      "Ja, ich fürchte, dass er es ist", wiederholte der alte Herr. "Der arme Junge hat sich sicher verletzt."

      "Das war ich, Herr", sagte ein großer, ungeschlachter Kerl "Ich schlug ihn in die Fresse, dass er hinfiel."

      Der Bursche griff grinsend an seine Mütze und erwartete wohl eine Belohnung für seine Tat. Der alte Herr warf ihm jedoch einen Blick des Abscheus zu und sah sich ängstlich um, als ob er selbst davonzulaufen wollte. Da kam endlich ein Polizist, wie denn bei solchen Anlässen die Polizei gewöhnlich immer zuletzt kommt. Er hatte sich einen Weg durch die Menge gebahnt und packte Justin nun beim Kragen.

      "Aufgestanden", brüllte er.

      "Ich bin es wirklich nicht gewesen, Herr Polizist. Es waren zwei andere Jungen", sagte Justin mit gefalteten Händen, dann sah er sich um: "Sie müssen hier in der Nähe sein."

      "Ach nein, es ist keiner da", sagte der Polizist. Er meinte es ironisch, dabei war es die reine Wahrheit, denn der Ludok und Gunter Bund hatten sich bei der ersten Gelegenheit, aus dem Staube gemacht. "Steh auf!"

      "Ach, tun Sie ihm nichts", sagte der alte Herr mitleidig.

      "Ich tue ihm schon nichts", antwortete der Polizist und riss ihm zum Beweise dafür die Jacke beinahe vom

      Leibe. "Nun komm schon! Donnerwetter, steh auf, du kleiner Strolch, du!"

      Justin versuchte mühsam aufzustehen', er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Der Polizist packte ihn beim Kragen und zerrte ihn im Laufschritt durch die Straßen. Der alte Herr ging neben dem Polizisten her und eine johlende Menge begleitete die drei auf ihrem Weg.

      Justin vor dem Richter

      Das Vergehen war in der unmittelbaren Nachbarschaft eines sehr bekannten Polizeiamtes der Hauptstadt begangen. Die johlende Menge hatte daher nur das Vergnügen, Justin durch zwei oder drei Straßen zu begleiten. Angekommen, wurde Justin in eine furchtbar schmutzige Zelle gesperrt. Der alte Herr sah, als sich der Schlüssel in dem Schloss drehte, fast ebenso kläglich wie Justin aus. Mit einem tiefen Seufzer blickte er auf das Buch, das die unschuldige Ursache dieses aufregenden Auftritts gewesen war.

      "Es ist etwas im Gesicht des Jungen", sagte der alte Herr gedankenvoll zu sich selbst, "ein Ausdruck ist darin, der mich rührt und mich für ihn einnimmt. Sollte er nicht unschuldig sein? Er sah aus, wie - ja wie -", hier hielt der alte Herr plötzlich inne; "Herr Gott im Himmel, wo habe ich ein ähnliches Gesicht früher schon mal gesehen?"

      Der alte Herr sann einige Augenblicke nach und trat dann in ein Wartezimmer des Polizeiamtes. Hier zog er sich in einen Winkel zurück und ließ eine Reihe von Gesichtern an seinem geistigen Auge vorbeiziehen.

      "Nein, es muss Einbildung sein", sagte der alte Herr, den Kopf schüttelnd. Er stieß einen Seufzer aus und vertiefte sich wieder in die alte Schwarte. Ein Gerichtsdiener berührte ihn an der Schulter und ersuchte ihn, ihm ins Amtszimmer zu folgen. Er schloss eilig das Buch und stand alsbald dem berühmten Herrn Fingerling gegenüber. Das Amtszimmer lag nach vorn hinaus und hatte getäfelte Winde. Herr Fingerling saß am oberen Ende hinter einer Schranke. Neben der Tür war ein hölzerner Verschlag in dem sich bereits der arme, am ganzen Körper zitternde Justin befand. Herr Fingerling war ein Mann von mittlerer Größe. Mager, glatzköpfig, hatte er ein finsteres, stark gerötetes Gesicht. Wenn er auch wirklich nicht mehr trank, mehr als ihm zuträglich war, so hätte er gegen sein Gesicht eine Verleumdungsklage anstrengen können. Beträchtlicher Schadenersatz wäre ihm sicher gewesen. Der alte Herr verbeugte sich höflich, trat an das Pult und überreichte seine Karte. Zufälligerweise las Herr Fingerling gerade in der Zeitung einen Artikel, der eine seiner neuen Entscheidungen abfällig besprach. Er war daher höchst übel gelaunt und guckte ärgerlich auf.

      "Wer sind Sie?" herrschte er den alten Herrn an.

      Der alte Herr wies etwas überrascht auf seine Karte.

      "Gerichtsdiener", sagte Herr Fingerling, indem er mit der Zeitung die Karte verächtlich vom Pult fegte, "wer ist dieser Mensch?"

      „Mein Name“, sagte der alte Herr würdig, "mein Name, Herr, ist Braunau. Gestatten Sie mir nun auch, nach dem Namen des Richters zu fragen, der ohne irgendeinen Anlass einen anständigen Mann so beleidigend behandelt."

      "Gerichtsdiener!" fuhr Herr Fingerling unbeirrt fort, "wessen ist dieser Bursche angeklagt?"

      "Euer Gnaden, er ist kein Angeklagter, sondern tritt als Kläger gegen diesen jungen auf", erwiderte der Gerichtsdiener. Seine Gnaden wussten das sehr gut, konnten jedoch auf diese Weise ohne Gefahr unverschämt werden.

      "Tritt als Kläger gegen den Jungen auf, - so, so!" sagte Herr Fingerling und maß Braunau mit einem verächtlichen Blick. - "Nehmen Sie ihm den Eid ab."

      "Ehe man mich vereidigt, bitte ich ein paar Worte sagen zu dürfen", sprach Herr Braunau: "nämlich, dass ich nie geglaubt hätte, wäre es mir nicht selbst passiert -"

      "Halten Sie den Mund, Herr!" rief Herr Fingerling im Befehlston.

      "Nein, Herr", entgegnete der alte Herr.

      "Wenn Sie nicht augenblicklich den Mund halten, lasse ich Sie hinaus führen" brüllte Herr Fingerling. "Sie sind ein ganz unverschämter Mensch. Wie können Sie es wagen, einen Richter anzuschnauzen?"

      "Was sagen Sie da?" rief der alte Herr puterrot.

      "Vereidigen Sie den Menschen!" sagte Fingerling zu einem Schreiber. "Ich will nichts mehr hören. Vereidigen Sie ihn."

      Herrn Braunaus Entrüstung war aufs höchste gestiegen, und er wollte seinen Gefühlen auch Luft machen. Da er aber befürchtete, damit Justin zu schaden, so unterdrückte er sie und ließ sich vereidigen.

      "Nun", beginn Herr Fingerling, "wessen wird der Junge beschuldigt. Was haben Sie vorzubringen, Herr?"

      "Ich stand an einer Bücherbude -"

      „Schweigen Sie, Herr!" unterbrach ihn der Richter

      „Wo ist der Polizist?“ rief Fingerling

      „Hier“

      „Vereidigen Sie den Polizisten“

      „Nun, was wissen Sie von der Sache?"

      Der Polizist berichtete mit gebührender Unterwürfigkeit, was ihm von der Anklage bekannt geworden war. Er habe auch Justin untersucht und nichts bei ihm gefunden. Weiter könne er nichts angeben.

      "Sind Zeugen da?" fragte Herr Fingerling.

      "Nein, Euer Gnaden", erwiderte der Polizist.

      Herr Fingerling saß einige Minuten schweigend da, wandte sich dann an den Kläger und sprach mit immer

      zunehmender Heftigkeit:

      "Wollen Sie nun endlich sagen, wessen Sie diesen Knaben beschuldigen? Sie haben geschworen. Wenn Sie Ihr Zeugnis verweigern, so werde ich Sie wegen Nichtachtung des Gerichts in Strafe nehmen. Ja, das will ich - bei"

      Bei wem oder bei was ließ sich nicht vernehmen, denn der Schreiber und der Gefängniswärter brachen in diesem Augenblick in ein lautes Husten aus. Ersterer ließ auch noch ein schweres Buch auf die Erde fallen, zufällig natürlich, so dass man das Wort nicht verstehen