Joachim Kunst

Kommissar Aschoka rächt seinen Tod


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Wessels nennt Kommissar Aschoka seinen Freund und Weggefährten, mit dem er ein Leben lang durch gegenseitige Achtung und gemeinsame Interessen verbunden gewesen sei. Gerechtigkeit sei immer das Ziel seines Freundes gewesen. Das habe so mancher Verbrecher, den er zur Strecke gebracht habe, erfahren müssen. „Um der Gerechtigkeit willen hat er seinen Beruf gewählt und die Verbrecher nicht nur gestellt, sondern auch dafür gesorgt, dass sie gerecht bestraft wurden, ihrem Verbrechen angemessen ...“ er macht eine rhetorische Pause … „soweit ihm das unser Rechtssystem gestattete.“ Wohl aus diesem Gefühl für Gerechtigkeit hätte er sich auch der indischen antiken Geschichte zugewendet, besonders der Zeit des indischen Kaisers Ashoka, der ihn fasziniert habe. „Hier haben sich unsere Interessen getroffen, denn auch ich beschäftige mich gern mit Ashoka und seiner Zeit. Auch seinen Berufskollegen ist sein ganz besonderes Interesse für die indische Antike nicht verborgen geblieben, und sie haben ihn daher respektvoll „Kommissar Aschoka“ genannt.

      „In den letzten Jahren hat sich das Leben meines Freundes verdunkelt“, fährt der Professor fort. „Zuerst wird ihm seine Tochter ANA JULIA und dann seine Frau AMALIA genommen. An beiden hat er mit ganzer Liebe gehangen. Seine Frau, die Rechtsprofessorin, ist über den Tod ihrer gemeinsamen Tochter Anna Júlia nicht hinweggekommen und schließlich ihrem Asthmaleiden erlegen.“ Auch mit ihr habe ihn ein tiefer Respekt und ein gemeinsames Interesse an Rechtsgeschichte verbunden, führt Professor Wessels aus. „Nächtelang haben wir zu dritt diskutiert“, erinnert er sich wehmütig. „Nach ihrem Ableben haben sich sein Schwiegersohn und seine Enkelin mit viel Liebe um den alternden Kommissar gekümmert. Doch das Loch, das der Tod von Tochter und Ehefrau in sein Leben gerissen hat, konnte niemand mehr schließen. Allen, die Dich gekannt haben, wirst Du fehlen“, beschließt er seine kurze Ansprache. „Und die Welt verliert mit Dir wiederum ein Stück Gerechtigkeit.“

      Die kleine Trauergemeinde löst sich bald auf. Nach Kaffee und Kuchen ist niemandem zumute.

      Kapitel 2: Rätsel um Kommissar Aschokas Tod

      Woran ist Kommissar Aschoka gestorben?

      Seine Kollegen haben ihn als ruhigen – in letzter Zeit kann man fast sagen: verschlossenen – Mann in Erinnerung. Auch Kommissar GRACHUS, der nunmehr seine Nachfolge antreten wird, verliert mit ihm einen Kollegen, vor dem er vor allem Respekt hatte. Ihn als Freund zu bezeichnen, fällt Grachus etwas schwer. Dazu fehlte in dieser Beziehung das Intime, das Vertraute, das Kumpelhafte, das Männerfreundschaften oft kennzeichnet. Obwohl sie viele Kriminalfälle gemeinsam bearbeitet haben und manchen Verbrecher dadurch zur Strecke bringen konnten, dass sie so gut eingespielt waren und einer sich auf den anderen verlassen konnte, blieb immer eine gewisse Distanz zwischen ihnen. Das lag an Aschoka, der einer engen Freundschaft auswich, so als habe er Angst davor. Seit dem Tod seiner Frau hat sich diese Distanz zur Umwelt, die Aschoka umgab, noch erhöht. Grachus weiß auch genau, dass Aschoka niemanden aus seinem Kollegen- oder Bekanntenkreis duzte, niemanden außer seinen Freund Wessels.

      Doch Distanz zur Umwelt ist keine Krankheit und auch kein Grund zum Sterben, sagt sich Grachus. Warum stirbt ein Mann mit 63 Jahren, der sich bis dato einer guten Gesundheit erfreut und sich immer körperlich fit gehalten hat? Der sich auch in puncto Essen und Trinken immer zurückgehalten hat, so als wollte er auch gegenüber leiblichen Genüssen eine gewisse Distanz einhalten? Grachus erinnert sich, dass Aschoka ihn trotz dieser Zurückhaltung gelegentlich zu einer Flasche Rotwein eingeladen hat, insbesondere, wenn sie einen Fall gemeinsam und erfolgreich abgeschlossen hatten. „Kommen Sie, Grachus, wir haben uns eine Flasche Ventoux verdient“, pflegte Aschoka dann zu sagen. Rotwein der Provenienz Ventoux war Aschokas Lieblingswein.

      „Woran stirbt also ein gesunder aktiver Mann in diesem Alter?, fragt sich Grachus zum wiederholten mal. War es vielleicht doch kein natürlicher Tod? Hatte Kommissar Aschoka Feinde? Würden seine Feinde so weit gehen, ihm nach dem Leben zu trachten?

      Kapitel 3: Könnte Selbstmord vorliegen?

      Kommissar Grachus geht gedanklich die Fälle durch, die sie in den letzten Jahren gemeinsam bearbeitet haben. Obwohl sie manchen Kriminellen hinter Schloss und Riegel gebracht haben, fällt ihm keiner ein, dem er einen Mord aus Rache zugetraut hätte. Im Gegenteil, ihm fallen sogar zwei Fälle ein, wo sich Kriminelle nach Absitzen ihrer Strafe bei Aschoka bedankt haben, weil er sich vor Gericht für sie eingesetzt hatte, so dass das Strafmaß daher milder ausfiel als sie selbst erwartet hatten. Aschoka hatte seine eigenen Vorstellungen über Gerechtigkeit, und die versuchte er bei Gericht zur Geltung zu bringen, wenn es ihm notwendig erschien. Der Alte hatte sich bei seinem um 20 Jahre jüngeren Kollegen mehrmals kritisch geäußert über Urteile, die er als ungerecht ansah. Einmal hatte er Grachus gegenüber bemerkt bei einem Urteil über einen Wirtschaftsverbrecher: „Dieser Mann hat so viele Menschen betrogen, dass er eine harte Strafe verdient. Doch er bekommt nur eine Bewährungsstrafe, weil er einen guten Anwalt hat. Was hat das mit Gerechtigkeit zu tun?“

      Als Grachus mit seinen Überlegungen nicht weiter kommt, fällt ihm die Sekretärin Aschokas, HELGA BOQUEL, ein. Zwanglos fängt er ein Gespräch mit ihr an über ihren verstorbenen Chef: „Immer noch ist rätselhaft, woran er gestorben ist. Trauen Sie ihm einen Selbstmord zu?“ Zu seiner Verwunderung antwortet Frau Boquel sofort ohne weitere Überlegung: „Wissen Sie, Herr Kommissar, als ich vom Tode meines Chefs erfuhr, dachte ich sofort an Selbstmord. Er wirkte in letzter Zeit oft sehr nachdenklich, fast depressiv. Er ging öfter als früher ans Grab seiner Frau und war oft gedanklich abwesend. Den Tod seiner Frau hatte er offensichtlich innerlich nicht verarbeiten können.“

      Grachus fällt auf, dass die Sekretärin das sagt, als wolle sie jemanden vom Selbstmord Aschokas überzeugen. Warum sagt sie ihm das, jemandem, der ihren Chef genauso gut gekannt hat wie sie selbst? Steckt Absicht dahinter? „So offensichtlich, wie sie es darstellt, ist ein Selbstmord nicht“, sinniert Grachus. Außerdem weist die Leiche Aschoka`s keinerlei Anzeichen von Selbstmord auf.

      Grachus erinnert sich sogar an ein Gespräch mit seinem Kollegen, in dem dieser ihm anvertraut hatte, er sei im Begriff, Mitglied einer Sekte zu werden, die Selbstmord streng ablehne. Dieses Gespräch hatte erst vor etwa zwei Wochen stattgefunden, und Grachus hatte sich gewundert über die Bemerkung, weil er sich Aschoka als Sektenmitglied nicht so recht vorstellen konnte. Doch egal, ob mit oder ohne Sekte, er hat Zweifel an dem, wovon Helga Boquel überzeugt scheint, am Selbstmord seines Kollegen. Er sieht die Sekretärin ohnehin etwas skeptisch, weil er weiß, dass sie die Geliebte eines Rechtsanwalts ist, der einen Mafioso verteidigt hat, den Kommissar Aschoka zu Fall bringen wollte. Als er jedoch seinem Kommissar-Kollegen gegenüber Zweifel an der Loyalität seiner Sekretärin geäußert hatte, hatte dieser abgewinkt mit der Bemerkung, er habe schon seine Gründe, an seiner Sekretärin festzuhalten.

      Kapitel 4: Untersuchung des Todesfalls

      Ebensowenig offensichtlich wie ein Selbstmord liegt ein Mord vor: Keinerlei Anzeichen eines gewaltsamen Todes, kein Mordmotiv weit und breit. Nur dieses Gefühl des Kriminalisten – wohl mehr intuitiv -, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Man stirbt doch nicht einfach so! ...wenn man nicht krank ist und mit 63 Jahren zwar nicht mehr jung aber auch nicht so alt ist, dass man unbedingt sterben müsste oder gar wollte? Grachus kannte seinen Kollegen als ernsten, ja sogar etwas verschlossenen Mann, den natürlich der Tod von Tochter und Ehefrau arg mitgenommen hatte. Aber deshalb Selbstmord? Nein, das konnte er sich nicht vorstellen. Würde Aschoka doch in zwei Jahren in Pension gehen und dann alte Freunde besuchen, wie er Grachus noch kürzlich erzählt hat. Diese leben am indischen Ozean – Grachus konnte sich im Moment nicht genau erinnern, wo – und er, Aschoka, habe dann Gelegenheit, seine Kenntnis der indischen Geschichte und auch der indischen Sprache zu vertiefen.

      Das alles hört sich für Kommissar Grachus nicht nach Selbstmord an! Außerdem ist da ja noch seine Enkelin ROXANE und sein Schwiegersohn TIMO BEIL. Aschoka lebte mit ihnen zusammen in seiner schönen großen Villa, er im Erdgeschoss, Schwiegersohn und Enkelin im 1. Stock. Auch wenn Aschoka über sein Privatleben wenig gesprochen hatte, war doch allen seinen Kollegen klar, dass er ein gutes Verhältnis zu beiden hatte. Sie wussten,