am liebsten in der Mittelstufe, Schüler also, die von seinen Kollegen meistens herbe angegangen wurden, weil sie in ihrer pubertären Aufmüpfigkeit nicht leicht zu nehmen waren. Chuck wurde aber von ihnen akzeptiert, wahrscheinlich, weil er sich durch sein Äußeres vom übrigen Kollegium unterschied, die meisten seiner Kollegen ließen sich doch gehen, hatten dicke Bäuche und sahen schwammig aus, die Schüler hatten für so etwas natürlich ein Auge. Auch die Kleidung wurde begutachtet, und da fiel den Schülern auf, dass Chucks Kollegen immer die gleichen unauffälligen Hemden und Hosen anzogen und damit unendlich langweilten, Kolleginnen gingen oft in die Breite und trugen steilwandzeltartige Blusen, um ihre schwabbeligen Bäuche zu kaschieren.
Chuck liebte das Unterrichten in der Mittelstufe deshalb so sehr, weil die Schüler in dem Alter, in dem sie waren, am Scheideweg zum jungen Erwachsenen standen, was sie unsicher und in ihrem Verhalten unberechenbar machte, wo Chuck aber richtungsweisend wirken konnte, wo er Wege aufzeigen und Verhaltensrichtschnüre darlegen konnte. Das fand er ungeheuer reizvoll, in den Lebensvollzug der jungen Menschen einzugreifen und dabei nie vorhersagen zu können, ob er nicht vielleicht scheiterte. Ihm war klar, dass das immer nur klappte, so lange es ihm gelang, die Balance zu halten zwischen pädagogischem Erfordernis und seiner eigenen freien Einflussnahme, und diese wiederum konnte er nur wirksam werden lassen, so lange er bei den Schülern akzeptiert war. Er ließ die Schüler spüren, das sie mit allem, was sie bedrückte, zu ihm kommen konnten, und sie kamen, was ihn immer freute. Chuck merkte so, dass er in den Augen der Schüler nicht nur der pädagogische Koloss war, der Fehlverhalten mit schlechten Noten sanktionierte, sondern ein Mensch, dem man vertrauen und seine ärgsten Nöte mitteilen konnte. Britta, seine frühere Frau, gehörte zum Kollegium, sie hatten sich vor drei Jahren scheiden lassen, zum Glück war ihre Ehe kinderlos geblieben, sodass die Scheidung reibungslos über die Bühne ging.
Britta und Chuck hatten sich auseinandergelebt, wie man so sagte, das hieß, dass sie sich ein eingefahrenes Verhaltensrepertoire zugelegt hatten, das den anderen langweilte und ihnen selbst Sicherheit gab. Am Schluss sahen ihre Abende so aus, dass Chuck die Tagesschau guckte und Britta mit einem Glas Rotwein neben ihm saß und manchmal sogar noch eine Zigarette dabei rauchte. Man schwieg sich an, weil es nichts gab, worüber man hätte reden können, ohne dem anderen das Gefühl zu geben, minderwertig zu sein. So zogen sie in beiderlei Einverständnis die Notbremse und ließen sich scheiden. Chuck zog dann aus der gemeinsamen Wohnung aus in eine kleinere Wohnung, etwas weiter weg von Britta, damit man sich nicht ständig über den Weg lief. Britta hatte sich in den letzten Jahren verändert, sie war dick und in Chucks Augen auch zunehmend unansehnlich geworden, auch Chuck war in seiner Zeit mit Britta körperlich unattraktiv geworden und hatte deshalb begonnen, im Fitnessstudio zu trainieren. Chuck und Britta redeten hin und wieder miteinander und fragten, wie es dem anderen ginge, wenn sie sich im Lehrerzimmer trafen, sie hatten aber sonst nichts mehr miteinander zu tun. Britta hatte offensichtlich eine Beziehung mit Peter Kromer angefangen, einem Kollegen, der Englisch und Deutsch unterrichtete, genau wie Britta auch. Chuck mochte Peter Kromer nie besonders leiden, weil der von sich eingenommen war und diese Haltung immer zur Schau trug. Peter Kromer verstand es, die Frauen zu umgarnen und Britta war darauf reingefallen, so sah Chuck das, es war ihm aber im Übrigen egal, was Britta tat.
Chuck selbst hatte sich nicht wieder fest gebunden, er fühlte sich zum weiblichen Geschlecht durchaus hingezogen, es gab da die eine oder andere im Fitnessstudio, mit der er schon gerne ins Bett gestiegen wäre, er hatte es aber noch nie so weit kommen lassen, er wusste auch nicht, ob die Frauen nicht verheiratet oder sonst wie liiert waren. Er hatte aber schon bemerkt, wie man ihn im Studio heimlich fixiert hatte und über ihn tuschelte, manchmal blickte er zurück und lächelte.
Da war besonders eine dunkelhaarige durchtrainierte, vielleicht fünfunddreißig Jahre alte Schöne, die hätte er schon gerne einmal angesprochen, sich aber bis dahin noch nicht getraut.
Einmal bekam er mit, wie er zufällig mit ihr an der Rezeption stand, dass sie Karin gerufen wurde, „viel Spaß beim Training, Karin!“, rief man ihr nach. Sie blickte Chuck flüchtig an, und es huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Chuck erweckte im Kollegium den Neid der anderen Lehrer, wenn sie sahen, wie gut er mit den vierzehn bis sechzehn Jahre alten Schülern zurechtkam, die in ihren Augen nur frech, unverschämt und aufmüpfig waren. Teilweise gingen sie so weit, ihm zu unterstellen, er wollte sich bei ihnen einschmeicheln und würde zu gute Noten verteilen, was er aber von sich zu weisen wusste, er varbat sich die böswilligen Unterstellungen und die Kollegen ließen dann von ihm ab.
Doris
Es gab im Kollegium kaum jemanden, mit dem er ernsthaft Gespräche über Schüler führen konnte, wenn man einmal von Frau Schulte absah. Frau Schulte unterrichtete Französisch und Kunst und war schon etwas älter, sie war alleinstehend. Sie war in ihrem Lehrerdasein so gereift, dass sie Chuck wertvolle pädagogische Tipps geben konnte. Chuck merkte in Gesprächen mit ihr, dass sie die Schüler nahm, wie sie waren, unfertig und unreif, das machte jedes Gespräch mit ihr zu einem Gewinn für ihn. Frau Schulte wurde auch von den Schülern akzeptiert, weil sie merkten, dass sie sie ernst nahm und bereit war, sich auf sie einzulassen. Frau Schulte galt im Kollegium wegen ihrer Schülernähe als Sonderling, sie hob sich von den anderen Kollegen ab, so viel war Chuck klar, er spürte aber in Gesprächen mit ihr eine wohltuende Wärme, die ihm signalisierte, dass sie es ernst mit dem meinte, was sie sagte, und dass das im Sinn der Schüler war. Chuck freute sich immer, wenn Frau Schulte und er eine gemeinsame Freistunde hatten und sie sich über die Schüler unterhalten konnten, das ging natürlich nur, wenn nicht einer von ihnen Vertretungsunterricht geben musste. Oftmals war es so, dass Chuck nach der Schule noch Einzelgespräche mit Schülern führte, wenn andere Kollegen längst nach Hause gingen. Wenn sie ihn mit einem Schüler vor dem Lehrerzimmer stehen sahen, schauten sie ihn abschätzig an. Chuck fuhr anschließend mit der Straßenbahn nach Hause, das dauerte zwanzig Minuten, es saßen regelmäßig Schüler mit in der Bahn, die sich aber nicht von ihm wegsetzten oder über ihn tuschelten, sondern zu ihm kamen und sich mit ihm unterhielten, bis er aussteigen musste und ihnen Lebewohl sagte.
Manche Schüler winkten ihm noch durch die Scheiben der Straßenbahn zu. Zu Hause bereitete sich Chuck dann meistens einen Obstteller aus Äpfeln, Birnen, Bananen und Weintrauben, er aß Obst besonders gerne, es war leicht und erfrischte. Er hatte es sich vollkommen abgewöhnt, die schweren Fleischmahlzeiten zu sich zu nehmen, sie waren fett und füllten einen ab, sodass man müde wurde und sich hinlegen musste. Chuck ging viermal pro Woche ins Fitnessstudio, schon allein deshalb konnte er nicht so opulent zu Mittag essen, er hatte aber auch überhaupt kein Bedürfnis danach. Früher, als er noch mit Britta zusammen war, da wurde immer gekocht und reichlich gegessen, sie legten sich nach dem Essen immer beide hin und schliefen, manchmal zwei Stunden lang, anschließend standen sie gerädert wieder auf und vertrödelten den Tag, machten Unterrichtsvorbereitungen oder korrigierten Klassenarbeiten. Im Grunde verlief jeder Tag gleich und das nahm der Beziehung die Spannung. Chuck glaubte, dass viele Beziehungen so auseinanderliefen oder künstlich am Leben gehalten wurden, er war froh, dass Britta und er sich damals entschlossen hatten, sich scheiden zu lassen. Chuck ging nachmittags ins Studio, wenn es noch nicht so voll war, die anderen Berufstätigen kamen im Regelfall erst nach 17.00 h, dann war Chuck längst fertig.
Er hielt sich immer eineinhalb Stunden dort auf, dann hatte er seine Übungen absolviert, es waren immer die gleichen Übungen, was ihn aber nie langweilte. Er wusste, dass sie ihn anstrengten und er machte sie einfach, inzwischen aber mit einer großen Leichtigkeit. Hinterher fühlte Chuck sich befreit und erleichtert, oft verließ er das Studio und pfiff ein Lied, er fühlte sich danach pudelwohl und hätte die Welt umarmen können. Meistens fuhr er mit dem Rad zum Studio, er hatte nicht weit, er musste nur um drei Blocks fahren und war da. Sein Rad stand im Keller, er musste es jedes Mal hochholen, was ihm aber nichts mehr ausmachte. Chuck unterrichtete auch gern in der Oberstufe, wo man mit den Schülern schon ernsthafte Gespräche führen konnte, und wo man fast ausgereifte Persönlichkeiten vor sich hatte. Wenn er vor einem Oberstufenkurs stand, fehlte ihm die Spannung der Situation, man konnte die Oberstufenschüler nur auf das Abitur vorbereiten und ihnen beibringen, wie sie den Weg dorthin am ökonomischsten bewältigten, man konnte aber kaum noch einen pädagogischen Einfluss nehmen, und das war für Chuck in der Schule das Salz in der Suppe. Dennoch fühlte