dreißig und mehr Schüler zählten, es herrschte in den Kursen meistens eine wohltuende Stille, in der sich gut arbeiten ließ.
Auch gab es in der Oberstufe sehr hübsch anzusehende Schülerinnen, aber da hielt Chuck sich zurück, im Gegensatz zu manchen jungen Kollegen, die mit den Schülerinnen anbändelten, nicht sehr offensichtlich, sondern heimlich, zum Beispiel auf Kursfahrten. Chuck war ein sehr umgänglicher Mensch, er wurde gern auf Feten gesehen und auch immer eingeladen, wenn es etwas zu feiern gab, er wurde gemocht. Er wusste, sich mit Leuten zu unterhalten, er hasste es, Belanglosigkeiten auszutauschen, er war immer daran interessiert, bestimmte Themen zu vertiefen, ohne an dem Fetenabend Diskussionsrunden zu veranstalten, aber man konnte sich auch auf kleiner Flamme über Dinge unterhalten, die interessierten. Besonders mit Frauen gelang ihm immer ein gutes Gespräch, wahrscheinlich, weil sie es gewohnt waren, von Männern angebaggert zu werden, die dabei ziemlich dummes Zeug von sich gaben, gleichzeitig waren sie offen für gute Themen und verstanden es, Dinge mit viel Wärme zu betrachten. Natürlich war Chuck nicht blind dem weiblichen Geschlecht gegenüber, er wusste aber, sich zurückzuhalten, und wenn er sich unterhielt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das rechneten ihm seine weiblichen Gesprächspartner hoch an, waren sie es doch gewohnt, blöde angequatscht zu werden, da tat es richtig gut, sich ganz normal mit jemandem unterhalten zu können.
Chuck gab in politischen Gesprächen gern seine Überzeugungen preis und fand so bei vielen Gehör, aber auch Gesprächsgegner, er war nämlich in seinem tiefsten Inneren Sozialist. Oft warf man ihm vor, er wäre ein Modesozialist, der seine sozialistischen Thesen nur von sich gab, um sich wichtig zu machen und einem modischen Trend zu folgen, in Wahrheit führte er doch den Lebensstil eines dekadenten Hedonisten, der nichts ausließe, was ihm Vergnügen bereitete. Chuck trafen solche Anwürfe sehr, und er hatte immer große Mühe, dagegen zu halten, in einem Punkte hatten seine Gegner ja Recht, er war auf einer Party und vergnügte sich dort in Saus und Braus. Er fand aber, dass das seinen sozialistischen Grundüberzeugungen nicht widersprechen musste, wenn er sich auf Partys vergnügte und dort aß und trank. Chuck stammte aus einem sozialdemokratischen Elternhaus und hatte sich während seiner Schulzeit mit marxistischen Theorien auseinandergesetzt, er fand sie, auch in der neuesten Zeit, noch in Abwandlungen zutreffend, er lehnte allerdings die pseudosozialistischen Relikte aus der DDR-Zeit ab, die waren ihm zu doktrinär und zu diktatorisch. Das entgegnete er auch allen, die ihm sagten, dass er doch Mitglied bei den SED-Überbleibseln werden sollte, da könnte er doch seine Parolen gut an den Mann bringen.
Dabei gab Chuck gar keine Parolen von sich, er bemängelte nur das permanente Auseinanderdriften von Arm und Reich und eine Politik, die eindeutig auf Seiten der Unternehmer angesiedelt war. Chuck war früher immer auf den UZ-Festen, wo sich die ganz linke Szene getroffen und gefeiert hatte, es wurde dort unheimlich viel gesoffen und getanzt, es traten internationale Künstler aus sozialistischen Ländern auf, es roch in allen Ecken nach Gegrilltem und nach exotischen Gewürzen, und es gab Diskussionsecken, in denen die aktuelle politische Lage erörtert wurde. Es gab unter den Gleichgesinnten natürlich kaum Kontroversen, und so feierte man immer in großer Eintracht. Wenn man noch konnte, schleppte man sich nach Hause, ansonsten legte man seinen Schlafsack hin und schlief seinen Rausch aus. Manchmal kuschelte man sich an eine nette Festteilnehmerin, zu mehr kam es aber nie, man hätte, besoffen wie man war, auch nicht mehr geschafft. Früher begab man sich zu allen möglichen linken Großereignissen, Chuck hatte natürlich auch an den Großdemonstrationen gegen den Schnellen Brüter in Kalkar und gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen in Bonn teilgenommen. Es war unglaublich, wie viele Menschen dort jeweils mobilisiert worden waren, nach Bonn waren 300000 Menschen gefahren, es hatten dort viele Prominente geredet. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, inmitten von 300000 Demonstranten auf dem Gelände der Friedrich-Wilhelm-Universität in Bonn zu stehen und den Reden zuzuhören. Chuck war damals noch Schüler, er trug eine Jacke mit Anti-Atomkraft-Abzeichen und lange Haare, seine blonde Mähne war kaum zu bändigen, die Mädchen mochten seine langen Haare sehr.
Damals erhielt er den Namen Chuck, sein richtiger Name war Dieter Morsbach, niemand wusste so recht, wie es zu der Namensgebung gekommen war, er sah nicht aus wie Chuck Norris, dessen militantes Auftreten in seine billigen Filmen ohnehin von allen abgelehnt wurde, jedenfalls von denjenigen, die zu Chucks Bekanntenkreis zählten. In seiner Sturm- und Drangzeit hatte Chuck auch Britta kennengelernt, sie war seine Kommilitonin an der Uni und sah gut aus, sie war schlank und hatte lange dunkle Haare, er hatte sich gleich in sie verliebt. Er zog mit Britta zusammen in eine Wohngemeinschaft, wo sie jeder ein Zimmer hatten und sich liebten. Chuck mochte Brittas festen Busen sehr. Auch Britta war politisch sehr engagiert und nahm an allen linken Großereignissen teil, sie fuhr regelmäßig mit Chuck dorthin. Sie waren beide auch in der Friedensbewegung aktiv und stellten sich an jedem Samstagmorgen mit einem Stand in die Stadt, wo sie mit den Passanten über den Frieden diskutierten. Richtig erst genommen wurden sie nur von wenigen, vielfach sprachen sie mit ehemaligen Kriegsteilnehmern, die sich besonders berufen fühlten, sich über den Frieden auzulassen. Chuck und Britta absolvierten danach auch gemeinsam die Referendarzeit und heirateten. Sie kamen anschließend an die gleiche Schule und entwickelten sich von da an auseinander, als ihr Leben eingerastet war, und es nicht Neues mehr gab.
Die Trennung von Britta begriff Chuck als einen Startschuss in ein neues Leben, er fühlte sich befreit von den ihn umklammernden Mächten des Alltags, von den routinierten Abläufen in Brittas und seinem Leben, die alles Impulsive im Keim erstickten, er sah sich in der Endphase seiner Ehe vor einem noch fünfundzwanzig Jahre ablaufenden Lebensvollzug und erschrak zutiefst. Wo war seine Jugend geblieben? Wo war all der Elan, mit dem Britta und er ihr Leben gestalten wollten? Britta schien sich eher mit den sie umgebenden eingefahrenen Umständen arrangieren zu können, sie machte keinen unzufriedenen Eindruck. Für Chuck bedeutete die Tretmühle, in die er geraten war, den Anfang vom Ende, wenn sich nicht grundlegend etwas änderte, er fühlte sich wie tot. In der Schule stand ein Lehrerausflug an, der Lehrerrat, dem Chuck nicht angehörte, hatte die große Impressionismusausstellung in Bielefeld ins Auge gefasst, „Der Deutsche Impressionismus“ wurde gezeigt und alle waren damit einverstanden, dreißig Euro zu zahlen und nach Bielefeld zu fahren. Es wurden zwei Busse gechartert, mit denen man an einem Mittwochmorgen von der Schule losfuhr. Chuck hatte sich neben Frau Schulte gesetzt, sie freute sich, sich mit ihrem jungen Kollegen während der zweistündigen Fahrt austauschen zu können, so ein Lehrerausflug bot doch die Gelegenheit, über Themen zu sprechen, die nichts mit der Schule zu tun hatten.
Im gleichen Bus, in dem Frau Schulte und Chuck saßen, saßen auch Britta und Peter Kromer, drei Reihen vor Chuck, er konnte sehen, wie sich Britta an Kromers Schulter anlehnte und empfand nichts dabei. Frau Schulte ertappte ihn dabei, wie er seinen Blick für kurze Zeit auf die beiden richtete und fragte ihn direkt:
„Empfinden Sie keine Eifersucht?“ Chuck erschrak über Frau Schultes Direktheit, und sie entschuldigte sich sofort bei ihm, er beschwichtigte die Situation aber gleich wieder und sagte:
„Das Thema Ehe mit Britta ist für mich erledigt! Eifersucht empfinde ich überhaupt keine, im Gegenteil, ich freue mich für Britta, dass sie offensichtlich eine neue Beziehung angefangen hat.“ Dann erzählte Frau Schulte von sich, dass sie auch schon einmal verheiratet gewesen wäre, dass aus dieser Ehe sogar ein Kind stammte, inzwischen ein erwachsener Mann, der in den Vereinigten Staaten lebte und dort sehr erfolgreich in der Comuterbranche tätig wäre.
„Ich sehe ihn, wenn er ab und zu einmal nach Europa kommt, dann treffen wir uns in der Stadt, in der er gerade auf einem Kongress oder einer Messe ist“, sagte sie, „das letzte Mal bin ich nach London geflogen, um ihn zu sehen.“ Sie freuten sich dann immer beide, sich wiederzutreffen und wären traurig, wenn ihr Wiedersehen vorbei wäre. In den Staaten wäre sie noch nie gewesen, sie flöge vielleicht in den nächsten Sommerferien zu ihrem Sohn, auch um ihre beiden Enkelkinder und ihre Schwiegertochter einmal kennen zu lernen. Zu ihrem ehemaligen Mann hätte sie gar keinen Kontakt mehr, er wäre nach Süddeutschland gezogen und hätte dort wieder geheiratet.
„Ich habe damals die Trennung von ihm als eine ebensolche Befreiung empfunden, wie Sie ihre Trennung von Britta“, fuhr Frau Schulte fort. Dann bot sie Chuck das Du an und sagte, dass er sie Doris nennen sollte, Chuck entgegnete, dass er Dieter hieße, sie aber Chuck zu ihm sage sollte, weil er diesen Namen schon seit zwanzig Jahren führte. Dann küssten sie sich