Ulrich Robin

C'est la Vie


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zähle. Nun sind nicht ausschließlich männliche Heilungssuchende angesprochen, die Rehabilitation zu nutzen, es sind auch einige, wenn auch wenige, Heilung suchende Damen mittleren Alters vertreten. Die mitgereisten Ehefrauen unterscheiden sich von letzteren jedoch unübersehbar. Sie fallen insbesondere durch ihre Inspektionsgänge im Gebäude auf. Möglicherweise hatte diese oder jene auch schon etwas zu beanstanden. Und sie werden ebenso dadurch auffällig, dass sie sich in der Klinik wie auf einem Kreuzfahrtschiff bewegen, die verschiedenen Stockwerke wie Schiffsdecks entern und nach Gelegenheiten suchen, sich Abwechslung zu verschaffen. Ansonsten füllen sie ganze Aufenthaltsräume mit ihren Geschichten. Es sind Geschichten aus ihren Heimatorten, in denen eh alles besser ist. Zumindest darin sind sich alle Erzählungen ähnlich. Was die Krankheit ihrer Männer betrifft, so geht es immer nur um das Eine: Fortschritte bei der Bekämpfung der nach-operativen Inkontinenz. Verständlicherweise fällt es mir schwer, mich im beschriebenen Umfeld auf den Text meiner Lektüre zu konzentrieren. Oh wie schön war Panama. Als ich dort im Cafe saß, in Ruhe las, und um mich herum Spanisch geführte Gespräche nur wie Hintergrundmusik wahrnahm. Ich beschließe, das Weite zu suchen. Zum Weiten wird eines der wenigen Cafes im Ort, wo man eher dazu neigt, wortlos in seiner Kaffeetasse zu rühren als sich mitzuteilen. Hier bemühe ich mich nun, das Komplettieren des sogenannten Selbstauskunfts-Formulars vorzubereiten, das allen Neuankömmlingen ausgehändigt worden war, mit der Bitte um vordringliche Erledigung.

      Nach flüchtiger Durchsicht des mehrseitigen Formulars, dessen baldige Bearbeitung, wie gesagt, uns anempfohlen worden war, bereue ich bereits meinen Entschluss, meine Zeit im Cafe für das Ausfüllen ebendieser Seiten reserviert zu haben. Eingedenk, jedoch, der ganz essentiellen Komponente des Konzeptes dieser Rehabilitationsmaßnahme: Die Ruhe ist unser höchstes Gut, unterlasse ich es, mich über dieses Formular im besonderen, und über Formulare im allgemeinen zu erregen. Abgesehen davon, dass schon viele andere sich erschöpfend zur Thematik Formulare geäußert haben und sie zu Papier gebracht haben. Ich nehme vielmehr die Autoren des Formulars beim Wort und gebe selbst Auskunft auf die Befragung, erlaube mir also eigenverantwortlich Abweichungen. Inwieweit ich mir meine Freiheit und Unabhängigkeit damit bewahre, in Hinblick auf anonymes Datensammeln, sei noch dahingestellt, auf jeden Fall aber minimiere ich damit mein Problem und schaffe Probleme für die, die die Daten einsammeln. Im Idealfall wäre das meine Variante des Schraubenschlüssels, der in einen Motor geworfen wird, um dessen Stillstand herbeizuführen. Nachdem ich mich also kritisch konditioniert habe, nehme ich einen zweiten Anlauf.

      Die Aufforderung Schildern Sie Ihre Familienverhältnisse irritiert mich bereits, ich erkenne aber, dass nur Zahlen gefragt sind. Geschwister: eins, Kinder: eins, Enkelkinder: eins. Dass nicht nach der Zahl der Ehefrauen gefragt wird, empfinde ich in diesem Zusammenhang nicht als störend, aber als einen Mangel an Logik. Meine Lebensverhältnisse, die eines von seiner Partnerin getrennt Lebenden, werden bezeichnenderweise gar nicht in Erwägung gezogen. Wie wohnen Sie? werde ich anschließend gefragt. Schön, möchte man schreiben, aber das lassen die Autoren nicht zu. Sie fragen nach Ein- oder Mehrfamilienhaus. Ich setzte ein: eins, in der Absicht, Ratlosigkeit zu verbreiten, da ich bereits hier Datensammelwut von dritter Stelle erahne, mit mir nicht erläuterter Zielsetzung. Die Frage nach der Ausbildung, von mir als die Frage nach der Dauer der Ausbildung gedeutet, scheint beantwortbar. Jedoch welche Ausbildung? Die, die zu meinem Beruf geführt hat? Gleichviel, ich rechne alle Jahre zusammen: 21 Jahre, und übertrage diese Zahl in das Formular. Da kann auch ein geübter Statistiker nicht ermitteln, wieviel Jahre in welcher Anstalt – im weitesten Sinne – verbracht worden sind. Wenn denn diejenigen, die dies auswerten, rückschließen: arme Eltern, die das alles zahlten, habe ich damit kein Problem. Die Frage nach dem Beruf offeriert überraschenderweise optionale Beantwortung. Die Autoren der Befragung sind nämlich interessiert zu erfahren: Welches war Ihr längster ausgeübter Beruf, oder aber welchen Beruf übten Sie in den letzten Jahren aus? Ich erlaube mir, die Sache zu vereinfachen und entscheide mich für Freiberufler. Das ist nicht unseriös, lässt alle Möglichkeiten offen, vom Arbeitslosen über den selbständig Tätigen bis zum Vorruheständler. Lediglich die Beamtenlaufbahn habe ich damit unwiderruflich für mich ausgeschlossen.

      Es folgen Fragen mit medizinischen Hintergrund. Das heißt, die allgemeine Kategorie ist abgearbeitet. Zu meiner Verwunderung fehlen demnach bei den allgemeinen Fragen einige Klassiker, wie Religionszugehörigkeit, Beruf der Eltern, Mitgliedschaften. Gemäß Fußnote dürfen die Medizin-orientierten Fragen auch im persönlichen Gespräch beantwortet und erläutert werden. Zu diesen zählen die nach operationsbedingten, vorausgegangenen Krankenhausaufenthalten und die nach bereits in Anspruch genommener psychologischer Betreuung. Folgt schließlich noch die Frage nach einem eventuell bereits gestellten Antrag auf einen Schwerbehindertenausweis. Möglicherweise eine Angelegenheit der Routine. Zum Beispiel für die nicht unbedeutende Gruppe staatlicher und städtischer Beamter und Angestellter, die Punkte für ihr Behindertenkonto sammeln. Zumindest in dieser Frage werde ich auf das Angebot eines persönlichen Gesprächs zurückkommen.

      KAPITEL DREI

      Es ist weder zu übersehen noch zu überhören, dass die Männergespräche in der Klinik dominiert werden von den fast täglich mitgeteilten Zustandsberichten – in ihrer Regelmäßigkeit werden sie nur noch übertroffen von den Wasserstandsmeldungen in Deutschen Hafenstädten – die die männlichen spezifischen Befindlichkeiten zum Inhalt haben. Zunächst möchte man meinen, die älteren Herren tun es ihren mitgereisten Ehefrauen gleich und analysieren durch lautes Nachdenken ihre Lage, was man auch altersbedingte Geschwätzigkeit nennen könnte. Das aber wird der Sache und den Männern nicht gerecht, ist uns doch eingangs empfohlen worden, Gespräche untereinander zu führen, uns auszutauschen, unsere Erfahrungen weiterzugeben, den Heilungsprozess zu reflektieren – auch im Vergleich – , und dienliche Gespräche als integralen Teil der Heilungstherapie zu betrachten.

      Die Empfehlungen, so meine Beobachtungen, werden auf die unterschiedlichsten Weisen befolgt.

      Meist in größerem Kreis, werden von den älteren Herren alle Inneren Organe die sich unterhalb des Zwerchfells drängen, auf das akribischste besprochen. Details werden klar und verständlich erläutert, und so nehmen auch weiter entfernt sitzende Mitbewohner noch am Wissen der Diskutanten teil, ob sie wollen oder nicht. Für einige aus dem Gesprächskreis wäre, im Hinblick auf ihren sich offenbarenden minderen Wissenstand, ein medizinisches Lexikon, neuester Stand, ein angemessenes Abschiedsgeschenk.

      Binnen weniger Tage regelt in den verschiedenen Gruppen der Mitbewohner eine gewisse Vertrautheit das Miteinander. In diesen Gruppen kennen sie bald voneinander Operationsdatum und weitere Eckdaten der Krankheitsgeschichten. Und es werden auch Körperdaten ausgetauscht. Das mögen Pulsfrequenz und Blutdruck sein, aber auch solche wie die gemessenen Mengen beim abgelegten Urinstrahltest. Die Daten werden mitunter auch im Aufzug oder auf dem Treppenabsatz kommuniziert, wobei Informationen auch schon mal falsch ankommen, falsch verstanden werden oder falsch weitergegeben werden. Dennoch, dem Genesungsprozess schadet das nicht. Die Kommunikation um der Kommunikation willen ist in diesem Fall der Balsam mit Heilwirkung, nicht das Weiterleiten einer Zahl, die auch nach der zweiten Kommastelle noch korrekt ist.

      Skurriler geht es da schon in den Kleingruppen zu, deren Teilnehmer sich gegenseitig ihre Operationsdetails erläutern. Die Operationen und ihre Vor- und Nachbereitungen werden nachgespielt so wie Preußens glorreiche Schlachten von greisen Generälen nachgestellt wurden. Wie die Herren an das minutiöses Wissen über ihre eigene Operation gelangt sind, bleibt unklar.

      Einzelgänger in diesem Umfeld gibt es auch. Das sind diejenigen, die jedem ihnen näher tretenden Neuankömmling ihren Krankheitsbefund erläutern und den Grund ihrer Einweisung in die Rehabilitationsklinik schildern. Dauerhafte Bekanntschaften entwickeln sich daraus kaum. Möglicherweise ist das darauf zurückzuführen, dass die Inhalte der Schilderungen immer verschieden sind, was nicht nur von mir bemerkt wird, sondern auch von denjenigen, die die Adressaten der Erzählungen sind. Es steht zu befürchten, dass das Variieren der Kranken-Vita nicht als rhetorisches Stilmittel einzustufen ist, sondern eher als Anzeichen zunehmenden Verlusts an Übersicht zu werten ist.

      KAPITEL VIER