Peter Schmidt

Mehnerts Fall


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entlarven können …

      Da er nichts von Billard verstand, würde man sich auch wundern, wenn er jede Einladung zu einer Partie ablehnte. Um dem vorzubeugen, besorgte er sich in der Apotheke ein Pflaster, das er in seine linke Handfläche klebte. Notfalls konnte er immer noch behaupten, er sei Karwels Zwillingsbruder und habe die Wohnung während nur seiner Abwesenheit übernommen.

      Der Apotheker, ein dickbauchiger Mann mit verschwitzten Händen, nahm ihn beiseite. Besorgt versuchte er ihn davon zu überzeugen, dass Karwel in Zukunft auf seine Dienste verzichten müsse. Bei der Kasse sei bereits eine Untersuchung eingeleitet worden – er habe einen Hinweis bekommen.

      Iven musste ein paar verdeckte Fragen stellen, bis er verstand, worum es sich handelte. Der Andere schüttelte deswegen den Kopf, als hielte er ihn nur für ein wenig zerstreut.

      Immerhin war jetzt klar, dass Karwel von ihm Valeron bezogen hatte, ein starkes Schmerzmittel. Offenbar ohne Rezept.

      „Gehen Sie zu einem Arzt! Lassen Sie sich das Zeug um Himmels willen legal verschreiben“, beschwor er ihn. “So starke Analgetika haben auch ihre Nachwirkungen. Sie tun sich keinen Gefallen damit.“ Er wirkte ziemlich nervös.

      Schließlich ging er doch noch an ein Regal und drückte ihm eines der blauetikettierten Fläschchen in die Hand.

      Als Iven ohne weiteres darauf einging, war er sehr erleichtert.

      „Wie viel bekommen Sie?“, fragte Iven. “Wie immer?“

      „Nein, nein.“ Er hob abwehrend die Hände. “Betrachten Sie es als ein …“ Dabei sah er ihn fast flehentlich an.

      Iven nickte. “Verstehe … schon gut. Machen Sie sich keine Sorgen.“

      Als er den Laden verlassen hatte, bemerkte er von der anderen Straßenseite aus, dass der Apotheker ihm in seltsam starrer Haltung nachblickte.

      Das alles bestätigte seinen Verdacht. Mit Karwel hatte die Abteilung keinen glücklichen Griff getan. Er war nicht gerade das, was man ein unbeschriebenes Blatt nannte. Aber sie brauchten in Hannes Nähe eine überprüfbare Kontaktperson – und dafür war er immer noch eine akzeptable Lösung.

      Ein Kerl, der wie Karwel mit einem Bein in der Unterwelt stand, würde unter Umständen sogar weniger Verdacht erregen. Gewöhnliche Agenten verhielten sich unauffälliger.

      Soviel er wusste, benutzten Süchtige Valeron gegen Entzugserscheinungen. Einige spritzten es, obwohl es nur zum einnehmen war. Aus dem Grund ersetzte man es neuerdings durch eine abgewandelte Version, die weniger spezifisch wirkte.

      Als er in Karwels Wohnung ankam, durchsuchte er den Apothekenschrank und die Schubladen, fand jedoch keine Spur, auch keine leere Packung des Medikaments.

      Falls Karwel süchtig war, trug er es bei sich. An der Grenze war es nicht so gefährlich wie Heroin. Weder den Grenzern noch den Beamten in der Untersuchungshaft würde es wichtig erschienen sein – Karwel war bereits verurteilt, ehe er tschechisches Staatsgebiet betreten hatte.

      Er konnte vorgetäuscht haben, an chronischen Schmerzen zu leiden.

      Man hatte ihm Kleidung und Papiere abgenommen, ein Scheinverhör durchgeführt und ihn – mit der Vertröstung auf ein gerechtes Verfahren oder ein mildes Urteil – in irgendein Provinzgefängnis abgeschoben.

      Da er unschuldig war und alles als einen Irrtum betrachtete, würde er an seine baldige Entlassung glauben.

      Iven war kein Freund solcher Methoden. Aber da man sie nicht um ihrer selbst willen anwandte, sondern um den politischen Gegner zu treffen, schienen sie ihm gerade noch gerechtfertigt. Die Gegenseite arbeitete mit denselben Mitteln. Der sogenannte “freie“ Westen und die BRD mit ihren drei Geheimdiensten waren keine Waisenknaben, was die Anwendung gewisser Praktiken jenseits oder am Rande der Legalität anging. – Er beschloss, dem Vorfall nicht mehr Bedeutung beizumessen als unbedingt nötig. In der Praxis zeigte sich oft, dass scheinbar nebensächliche Details plötzlich einen unverhältnismäßigen Stellenwert gewannen; er rechnete Karwels Süchtigkeit noch nicht dazu.

      Immerhin bestätigte das, was er bisher vom Westen gesehen hatte, die Kritik in der östlichen Presse:

      Sie verbreitete kaum Propagandagräuel, wenn sie die BRD als einen Sumpf aus Profitgier, Perversionen und schrankenlosem Materialismus beschrieb. – Keine Zeitung, ohne auf eine Kette von Morden, Bandenverbrechen, Schiebereien, Wirtschaftsbetrug, Vergewaltigung und Drogensucht zu treffen.

      Ein anderes beliebtes Thema war die Diffamierung der sozialistischen Gesellschaftsreform.

      Das Feindbild vom roten Gegner im Osten grenzte fast an Hysterie. Zumindest glich es einer – manipulierten – Zwangsvorstellung. Dabei bewies die Geschichte, dass der sogenannte“ Aggressor“ kaum jemals einen Angriffskrieg geführt hatte.

      Fast immer waren es die Russen gewesen, die von Mitteleuropa aus angegriffen wurden.

      Er argwöhnte auch, dass die beabsichtigte Nachrüstung der BRD mit Pershing-2-Raketen und Cruise Missiles nur ein Trick der Amerikaner war: Europa sollte zum Schlachtfeld eines eingeschränkten Atomkriegs werden, aus dem sie – trotz aller gegenteiligen Bündnisbeteuerungen – ihr eigenes Territorium heraushielten.

      Iven war kein Bildungsapostel, seit Jahren beschränkte er sich auf Arbeitsberichte und Tageszeitungen. Selten, dass ihm einmal ein Buch unterkam. Aber der Durchschnittsbürger hier war von erstaunlicher politischer Naivität.

      Er besaß in etwa die Urteilsfähigkeit eines DDR-Schülers der vierten Klasse.

      Doch Iven gab zu, dass sich in diesem Sumpf leben ließ. Für einige Zeit. Er nahm an, nach wenigen Jahren, fünf, höchstens zehn, würde jeder Sinn für irgendeine klassenkämpferische Betätigung erstickt sein. Aber er war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass seine Tätigkeit am Schreibtisch in Ost-Berlin denselben Effekt haben musste …

      Abends stand er am Fenster und beobachtete rauchend die Huren. Im Sommer saßen sie nicht nur hinter den rot- und blau-beleuchteten Fenstern, sondern promenierten hinternwackelnd durch die Gasse.

      Iven hatte einige Stangen Westzigaretten in der Wohnung entdeckt und sich das Kettenrauchen angewöhnt.

      Er freundete sich mit der Nachbarin an, einer kränkelnden Frau, die allein lebte. Zunächst war es eine Art Übermut gewesen, eine Neugier, wie weit sich sein Spiel als Doppelgänger treiben ließ. Dann merkte er, dass diese Beziehung ihren Nutzen hatte.

      Sie war um die Siebzig und überrascht, in Iven einen gesprächsbereiten Nachbarn zu finden. Sie habe ihn nie für einen schlechten Kerl gehalten – was die Leute auch immer reden mochten! Nur einmal erkundigte sie sich, wo denn seine vielen Freunde geblieben seien. Und warum er sie früher nie gegrüßt habe.

      Iven wich aus, er lebe jetzt recht zurückgezogen. Auch seine Freundin komme nicht mehr.

      Beim Wort “Freundin“ horchte die Alte auf, sie war sehr erstaunt. Da Karwels Hausklingel schon seit Monaten defekt sei (der Hauswirt zögere die Reparatur hinaus, weil die Flurwand aufgerissen werden müsse), hätten Karwels Besucher immer bei ihr geläutet – aber ein Mädchen habe sie nie gesehen. Sie erkundigte sich, ob er denn nun bald heirate und ob es das Mädchen aus Prag sei.

      “Einmal ist versehentlich eine Postkarte in meinem Briefkasten gelandet“, erklärte sie verlegen. “Solche Mädchen legen es meist nur darauf an, durch ihre Heirat in den Westen zu kommen.“

      „Nein“, sagte Iven. “Meine Freundin hat einen eigenen Schlüssel.“

      Sie nickte, damit gab sie sich zufrieden. Am nächsten Tag lud sie ihn zum Essen ein. Sie war ein wenig schwerhörig und sah nicht mehr gut. Aber die Graupensuppe, die sie nach altem Rezept für ihn kochte, schmeckte ausgezeichnet.

      Iven holte ihr Kohlen aus dem Keller und machte sich durch Einkäufe nützlich. Auf diese Weise erfuhr er wichtige Dinge über Karwel. Obwohl die alte Frau Kinder besaß und ihnen zwei Häuser vererbt hatte, lebte sie hier zur Miete in einer schäbigen kleinen Wohnküche. Ihre Kinder besuchten sie einmal im