Peter Schmidt

Mehnerts Fall


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betrachtete ihr großes, faltiges Gesicht. Ihre Haare waren zu einem altertümlichen Knoten zusammengebunden, den ein graues Netz hielt, und ihre Hände, raue, abgearbeitete Hände, zitterten unmerklich, wenn sie von der Vergangenheit sprach.

      „Ich kann nicht verstehen, Frau Kulka, dass man Sie in diesem Loch hausen lässt“, sagte er.

      „Ich bin ja daran gewöhnt“, erwiderte sie, wobei sie ihr eisgraues Haar zurechtstrich.

      „Warum ziehen Sie nicht in eine der grünen Wohnsiedlungen am Stadtrand, wo es keine Prostituierten gibt und die Betrunkenen nicht in den Hauseingängen liegen?“

      „Ach das …“, sagte sie und winkte ab.

      Nach allem, was er hier sah, fragte er sich ernsthaft, wozu man an einem Projekt arbeitete, das, falls sich die schwache Hoffnung bestätigte, zwar eine Wende in der Abrüstungspolitik herbeiführte, ihnen aber als Folge dieselben materialistischen Auswüchse bescheren würde.

      Er fand, es war besser, nicht darüber nachzudenken und einfach seine Arbeit zu tun …

      Am sechsten Tag, als er beinahe sicher war, weder erkannt zu sein noch beobachtet zu werden, legte er Markierungen an Türen, Schubladen und den Schränken aus und verließ die Wohnung, um den Zehn-Uhr-dreißig-Zug nach Bonn zu nehmen.

      Er löste eine Fahrkarte bis Sinzig.

      Die Abteile waren schwach besetzt; als habe er es sich anders über legt, stieg er am Bonner Bahnhof aus und ließ sich mit einer Taxe zur Bundesgartenschau bringen.

      Den Mittag über trieb er sich scheinbar ziellos in den Anlagen umher, besuchte den Gehölzgarten, das Bienenhaus, den Brückenmarkt und fuhr mit einem Ausflugsboot vom Anleger “Gronau“ über die Seenplatte.

      Morgens hatte noch die Sonne geschienen; später war der Himmel glasig geworden; jetzt schob sich Dunst wie eine Glocke über das Land.

      Es wurde schwül. Man spürte, dass ein Gewitter in der Luft lag. Er aß am holländischen Stand ein Käsesandwich und flüchtete vor dem aufziehenden Gewitterregen in den Eingang des Parkrestaurants Rheinaue.

      Er kaute abwartend an dem Rest des Brotes und sah auf den “Langen Eugen“, hinter dem sich das Bonner Regierungsviertel ausbreitete. In seinen Scheiben spiegelten sich die Wolken, die nach und nach eine violette Färbung annahmen.

      Während des Spaziergangs durch den japanischen Garten war die dunkle Wolkenwand östlich des Hochhausturms immer näher gekommen. Mit dem noch fernen Gewittergrollen und den ersten dicken Tropfen füllte sich das Lokal.

      Er setzte sich an einen Tisch beim Mittelpfeiler, den Rücken zur Fensterseite. Von hier aus hatte er die Theke und die Essensausgabe vor sich. Schwarzbefrackte Kellner, die wegen des geringen Publikumsandrangs in der Küche herumgealbert hatten, sahen neugierig in den Saal.

      Iven studierte die Speisekarte. Er würde abwarten. Wenn es noch voller wurde, konnte er sich im Gedränge unauffällig nach hinten begeben. Der Oberkellner war durch die Schwingtür hereingekommen und machte den Kellnern Beine. Draußen wehte eine Regenböe über den See.

      Das Restaurant war ein Spitzdachgebäude in modischer Pavillonarchitektur. Zur Rückseite hin gab es Konferenz- und Festräume, die durch eine den Saal in ganzer Länge teilende Schiebefalttür abgegrenzt waren. Die linke Halbseite der Tür stand offen.

      Von seinem Tisch aus sah Iven, dass die Handwerker das Podium montierten.

      Es würde ein Ball fürs Parteifußvolk und die Unteren des Regierungsapparats werden: die namenlosen Mitarbeiter, Sekretärinnen, Schreibhilfen, Boten, das Wachpersonal, die Hauswarte – alle jene, die in der großen Politik nicht in Erscheinung treten, für deren Funktionieren aber unentbehrlich sind.

      Und eine dieser Sekretärinnen war Hanne; seit Anfang des Jahres sogar Parteimitglied (man hatte vorgearbeitet in Ost-Berlin). Der Ball würde zwar erst in eineinhalb Wochen steigen, doch die Arbeiter hämmerten und sägten jetzt schon, als ginge es um den Bundesparteitag.

      Die Idee dazu stammte angeblich von Mehnert höchstpersönlich; doch nach Störtes Ermittlungen war sie das Verdienst einiger Werbestrategen. Man beabsichtigte, sein im Tete-à-Tete mit der Bonner Damenwelt zerschlissenes Image in so etwas wie honorigen Sinn für die Basis umzumünzen.

      Und es funktionierte!

      Das Fußvolk bekam einmal im Jahr Gelegenheit, mit der Parteispitze zu schwofen – um die Kunde vom menschlichen Oberen in alle Welt zu tragen.

      Der Saal füllte sich. Es gab kaum noch freie Tische. Eine ältliche Blondine lamentierte mit Sopranstimme vor der Theke, weil man ihrem Zwergpudel den Einlass verwehrte. Der Oberkellner war ausgesprochen zuvorkommend. “Haben Sie doch ein Einsehen“, bat er; aber sie ließ sich nicht beruhigen.

      Iven nutzte die Gelegenheit; er stand auf und ging zur Toilette. Als er herauskam, schlenderte er hinter dem Stützpfeiler, der ihn gegen das Lokal abschirmte, in den Konferenzraum hinein. Er setzte sich an den Tisch beim Podium; die Arbeiter nahmen keine Notiz von ihm.

      Nach der augenblicklichen Tischordnung würde man an seinem Platz vorüber müssen, wenn man auf die Tribüne wollte.

      Er begann, den Grundriss und die Anordnung der Tische auf ein Blatt Papier zu zeichnen. Dabei fluchte er einmal leise vor sich hin, worauf einer der Arbeiter zu ihm hinübersah.

      „Bleiben die Tische?“, fragte Iven.

      Der Arbeiter, der einen Mikrophonständer auf das Podium trug, zuckte die Achseln. “Handke“, rief er einem Monteur mit rabenschwarzem, in der Mitte gescheiteltem Haar zu – er erinnerte Iven an einen Stummfilmstar der zwanziger Jahre –‚“bleibt die Tischordnung?“

      Der Angesprochene hatte gegessen, er knüllte sein Butterbrotpapier zusammen und warf es hin.

      „Daran wird nichts geändert“, sagte er, wobei er breitbeinig, leicht wippend, die Treppe herunterkam.

      „Es ist wegen der Blumenbuketts.“

      „Aha.“

      „Kannmeyer und Co. – macht Blumenfreunde froh.“

      „Nie gehört“, sagte der Schwarzhaarige.

      „Aus Deutz.“

      „Was Sie nicht sagen.“

      „Wir liefern für jeden Tisch ein Bukett, jeweils in anderen Farben, und das Podium erhält eine umlaufende Bande. Ich schlage vor: Hyazinthen.“

      „Kommt nicht infrage.“

      „Wie?“ Er blickte von der Zeichnung auf.

      Der Monteur hatte sich auf den Tisch gesetzt, er hakte die Daumen hinter den Trägern seines Overalls ein.

      „Na, hören Sie mal!“ sagte Iven mit gespielter Entrüstung. Der andere lächelte nur süffisant. Anscheinend war er jetzt in seinem Element. Er legte mit den Fingern beider Hände den Mittelscheitel zurecht und sah sich nach seinen Kollegen um.

      Iven begriff, dass er sich nur produzieren wollte. – Nicht auffallen, dachte er. Zum Rückzug war es zu spät.

      „Wollen Sie, dass ich den Geschäftsführer hole?“

      „Von mir aus.“

      Iven machte Anstalten, sich zu erheben – er war sehr umständlich dabei.

      „Sitzen bleiben.“

      „Was, zum …?“

      „Aufs Podium dürfen keine Blumen“, erklärte er plötzlich. “Anweisung von Krausmann. Sie würden überhängen. Es bekommt ein Transparent – über die ganze Breite, verstehen Sie. Da bleibt kein Platz.“

      Na also, dachte Iven, das klang schon eine Spur verbindlicher.

      „Und die Tische?“

      „Bleiben wo sie sind.“

      „Gut, das wär‘s dann.“

      Er