Melissa Jäger

Raetia


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September, am IV. Tag vor den Iden des Septembers, Tag VII der Ludi Romani

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      Ab urbe condita 847, im dreizehnten Regierungsjahr von Kaiser Titus Flavius Domitianus, unter den Konsuln L. Nonius Calpurnius Torquatus Asp

       Monat März, am III. Tag vor den Iden des März

      Das Frühjahr hielt Einzug in der Hauptstadt der römischen Provinz Raetia. Die Wiesen trugen ihr Festtagskleid aus bunten Frühlingsblumen. Sie schienen Proserpina zu begrüßen, die nach dem langen Winterhalbjahr in Plutos Reich auf die Erde zurückkehrte. Die Vögel taten es den Krokussen und Märzenbechern gleich und wetteiferten mit ihrem Gesang um die Aufmerksamkeit der Heimkehrenden.

      Im Haus des Lucius Alpius Virilis blieben die Frühlingsanzeichen unbemerkt. Ilara, die junge Ehefrau des Hausherren grübelte. Ihr Schwiegervater Tiberius war wieder zu seinem Landhaus zurückgekehrt. Nach den Feierlichkeiten zu den Iden des März, die den Beginn des militärischen Jahres markierten, war er einige Tage in Augusta Vindelicum verblieben, um seine Amtsgeschäfte und Besprechungen im Collegium der Seviri Augustales zu verrichten. Solange war er Ilaras Gast gewesen. Jetzt kehrte wieder Ruhe ein im Stadthaus der Alpii. Ilara schätze Tiberius sehr. Ob er mit seiner Frau Tibulla oder alleine kam, er war immer liebenswürdig und zuvorkommend zu ihr. Dass es zwischen ihm und ihr immer wieder zu intimen Zärtlichkeiten kam, war inzwischen auch Ilara nicht mehr peinlich. Sie liebte ihren Schwiegervater und konnte seine Zuneigung zu ihr richtig einschätzen. Ilara wusste, dass Tibulla keinen Verdacht schöpfte. In letzter Zeit kam sie nur noch selten mit, da sie immer häufiger krank war.

      Kurz nach den Saturnalien war ein Brief von ihrem Mann Lucius gekommen. Der Luxuswarenhändler berichtete, heil in Alexandria gelandet zu sein und dort einige, wichtige Geschäftskontakte geknüpft zu haben. Er plante, die Saturnalien in Palmyra zu verbringen und anschließend in die Provinz Asia weiterzureisen. Den Heimweg wollte er über Cyprus und Sicilia nehmen. Bislang verlief alles nach Plan, sodass er hoffte, nach dem Winter mit einem der ersten Schiffe die Heimfahrt antreten zu können. Das bedeutete, dass er im Mai zurückkehren würde.

      Ilara las die Zeilen ohne jede Gefühlsregung. Sie freute sich weder über seine guten Reisebedingungen noch auf die zu erwartende Rückkehr im Mai. Wie sie erschrocken feststellte, fürchtete sie auch keine schlechten Nachrichten. Gänzlich emotionslos las sie die Informationen, die der Brief lieferte. Tiberius freute sich hingegen sehr zu erfahren, dass die Geschäfte seines Sohnes gut vorangingen und erwartete sehnlichst seine Rückkehr. Ilara wollte ihn nicht enttäuschen und mimte die treu sorgende Gattin, auch wenn sie keinen Gedanken an Lucius verschwendete. Viel mehr Sorgen machte ihr, dass ihre Monatsblutung bereits seit einigen Tagen überfällig war. Eine Schwangerschaft zu diesem Zeitpunkt war mehr als ungünstig.

      ***

      Alpina strich sich die rotbraunen Haare aus den Augen. Sie hatten sich aus der Hochsteckfrisur gelöst und kitzelten nun lästig im Gesicht. Die Vierzehnjährige kam müde vom Unterricht nach Hause. Der griechische Grammaticus Eirenaios war unbarmherzig gewesen. Sie hatten wie üblich in Homers Odyssee gelesen und anschließend die Feinheiten der attischen Redekunst und Schriftsprache analysiert, wie sie für die zukünftige Karriere der jungen Männer der gehobenen Gesellschaft als erstrebenswert erachtet wurde. Wer in Politik und Gesellschaft Karriere machen wollte, musste in attischem Griechisch parlieren können. Dass sie als Mädchen gemeinsam mit den Söhnen der Oberschicht am Unterricht des Grammatiklehrers teilnahm, war ungewöhnlich. Doch Alpinas Vater, Centurio der berittenen Statthaltergarde, wünschte sich gebildete Töchter. Er hatte nach seinem Sohn aus erster Ehe auch die Schwestern Ilara und Alpina in die Schola geschickt. Während sich Ilara beim Studium der lateinischen und griechischen Sprache langweilte, ging Alpina darin auf. So kam es, dass der Grammaticus anbot, sie auch nach der Grundschule weiter zu unterrichten. Und darüber hinaus hatte Eirenaios ihr in Einzelstunden Zugang zum Verständnis der Schriften des Hippokrates ermöglicht. Schließlich wollte Alpina in die Fußstapfen ihrer Mutter treten und Obstetrix werden, wie man die Hebammen im römischen Reich nannte.

      Alpina liebte die anstrengenden Lehrstunden und genoss jede davon, umso mehr da sie wusste, dass es bald damit vorbei sein würde. Der Termin für ihre Verlobung war auf den fünfzehnten Tag vor den Kalenden des Iulius festgelegt worden. Die Hochzeit mit dem Ritter Claudius Paternus Clementianus würde am fünften Tag vor den Iden des Septembers, während der Ludi Romani folgen. Eirenaios hatte Alpina bereits zu verstehen gegeben, dass es sich für sie nicht geziemte, als verheiratete Frau noch Unterricht bei ihm zu nehmen. Mit Beginn der Feriae im Sommer würde also ihre Ausbildung enden. Deshalb sog sie förmlich jedes Wort auf, das der Lehrer von sich gab. Leider würde sie keine Gelegenheit mehr haben, mit dem alten Medicus Atticus die Medizingeschichte und die verschiedenen Medizintheorien zu erörtern. Der Grieche war nur kurz nach den Saturnalien ganz plötzlich verstorben.

      Als sie das Atrium betrat war es von einem unbeschreiblichen Stimmengewirr durchdrungen. Es hallte und dröhnte, und Alpina erkannte, dass Dolabella, die Gattin des Duovir mit ihren Dienerinnen sowie Vitula, ihre Nachbarin, anwesend waren. Alle redeten auf eine junge Frau ein, die wild gestikulierend antwortete. Diese junge Frau war Macata, Dienerin vom Caecina, der Gattin des ehemaligen Quaestors Tenatius Essimnus. Die Stimmung war aufgeheizt.

      Dolabella erkannte Alpina, kam auf sie zugelaufen und umarmte sie. „Alpina, Liebes, schön, dass du nun da bist. Stell dir vor, was geschehen ist: Caecina, die Frau des Essimnus ist wegen Mordversuchs verhaftet worden! Männer aus der Garde deines Vaters haben sie abgeführt! Ihr eigener Mann soll sie des Mordversuchs bezichtigt haben! Unglaublich, nicht wahr?“

      Dolabellas Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. Sie sprach so schnell, dass Alpina Mühe hatte, sie zu verstehen. Nun kamen auch Alpinas Mutter Elvas und die Dienerin der Caecina auf sie zu. Das Mädchen grüßte und sah ein wenig unsicher zu ihrer Mutter hin, die nicht weniger hilflos wirkte.

      Dolabella fuhr in unverminderter Geschwindigkeit fort: „Wir dachten, deine Mutter wüsste vielleicht ein wenig mehr über die Sache, da ihr Mann doch der Centurio der Equites Singulares ist, aber Elvas war noch nicht einmal informiert! Dein Vater ist anscheinend in der Therme und anschließend zum Festmahl im Procuratorenpalast. Der Statthalter hat Besuch aus Rom! Hast du schon gehört? Die neuen Statthalter für die beiden germanischen Provinzen sind hier - in Begleitung des hoch angesehenen Fabricius Veiento. Der Kaiser persönlich hat ihn geschickt, um die Verhandlungen mit den Germanenfürsten voranzutreiben. Licinius Sura löst Vestricius Spurinna in Untergermanien ab und Lusianus Proculus den Neratius Priscus in Obergermanien. Auch unser Rufus soll mit ihnen nach Mogontiacum ziehen, um in die Verhandlungen mit den Germanenfürsten einbezogen zu werden. Du kannst dir vorstellen, mit was für einem Tross diese edlen Herren aus Rom über die Alpen gekommen sind. Die meisten ihrer Soldaten und Gefolgsleute haben ein Lager auf der anderen Seite des Likias aufgeschlagen. Nur die Herren und ihre persönlichen Begleiter sind hier im Unterkunftshaus.“

      Alpina konnte Dolabellas Informationsflut gar nicht so schnell verarbeiten. Sie war verwirrt. Die Gattin des vormaligen Quaestors war eine der angesehensten Damen von Augusta Vindelicum. Sie hatte ungefähr Elvas Alter. Alpina kannte auch ihre Kinder. Alle waren von Elvas entbunden worden. Cnaeus, der älteste Sohn und Gavia, die Alpinas Freundin und Mitschülerin war, lebten noch. Der jüngste Sohn war bereits kurz nach der Geburt gestorben. Cnaeus nahm Rhetorikunterricht bei Septimus Iulianus, einem angesehenen Advocatus und Redner. Er strebte selbst eine Laufbahn als Advocatus an.

      „Weiß denn niemand genaueres? Und wo ist eigentlich Gavia?“, wollte Alpina wissen.

      Die aufgedonnerte Vitula drängte sich an Dolabella vorbei nach vorne. „Essimnus hat Gavia verboten, das Haus zu verlassen! Er möchte nicht, dass sie mit jemandem spricht, bevor die Vorverhandlung stattgefunden hat. Macata kam etwa zur siebten Stunde ganz aufgeregt zu uns gelaufen Du weißt ja, wir wohnen praktisch gegenüber. Sie war ganz und gar aufgelöst und berichtete, dass ein Sonderermittler