Michael Schenk

Die Pferdelords 08 - Das Volk der Lederschwingen


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dann bin ich es, der dich bergen und zum Horst zurückschleppen

      muss.«

      Anschudar seufzte. Der alte Schwingenführer hatte recht. Zögernd zog er

      den ledernen Sattel unter dem Arm hervor und reichte ihn dem Alten. Die

      Sitzfläche war kaum zwei Handflächen groß und weich gepolstert, während

      die Steigbügel plump und massiv von ihren Lederriemen hingen.

      »Wir sind bald da, Anschudar«, meinte Mordeschdar. »Glaube mir, ich

      kann gut nachvollziehen, wie du dich jetzt fühlst. Mir erging es nicht anders,

      als ich meiner Lederschwinge zum ersten Mal begegnete.«

      »Vielleicht werde ich sie gar nicht zu Gesicht bekommen«, seufzte der

      Jüngere und tastete sich weiter den eisigen Pfad entlang.

      »Mag sein«, brummte Mordeschdar. »Wenn deine Schwinge schlüpft und

      gut aus dem Ei kommt, muss sie noch den Sturz überstehen. Viele sind daran

      schon gescheitert.«

      Das war eigentlich Anschudars größte Angst. Von klein auf war er zum

      Schwingenreiter erzogen worden. Nicht alle Männer seines Volkes waren

      dazu auserkoren, eines Tages den Bund mit einem dieser Wesen einzugehen.

      Man musste über die Fähigkeit der Verbindung verfügen, durch die man die

      Gedanken der Flugwesen spürte, wenn man ihre Haut berührte. Als er zum

      ersten Mal aus eigener Kraft auf seinen Beinen stehen konnte, hatten seine

      Eltern ihn zur Feedanaa gebracht, der Hüterin des Horstes. Sie hatte

      Anschudars Gaben erkannt und über seine Zukunft bestimmt. Doch all seine

      Erziehung und sein theoretisches Wissen würden vergebens sein, wenn das

      für ihn bestimmte Flugwesen zu Tode stürzte.

      Anschudar blickte nach oben. Nur wenige Längen noch, und sie hatten

      endlich den Gipfel des Geburtsfelsens erreicht. Diese höchste Erhebung des

      Uma’Roll fiel zu einer Seite steil ab. Gute eineinhalb Tausendlängen ging es

      dort hinab in die Tiefe. Dieser Abgrund würde über das Schicksal seiner

      Lederschwinge und Anschudars Zukunft entscheiden.

      Ein Stück über sich sah er das schwarze Rund des Eises. Anschudar

      bemerkte den Schatten, der über ihn fiel, und spürte einen leichten Luftzug,

      als das Muttertier dicht neben ihnen am Pfad vorbeistrich. Ihre ledrigen

      Schwingen bewegten sich auch hier, in der dünnen Höhenluft, mit anmutigen,

      sanft wirkenden Bewegungen. Sie hatte ihr Ei bebrütet und nun, da der

      Schlupf unmittelbar bevorstand, behutsam auf dem Geburtsfelsen abgelegt.

      »Sie ist sicherlich ebenso aufgeregt wie du, mein Junge.« Mordeschdar

      nickte unter seinem Helm und der Kapuze. »Auch für sie hängt viel davon ab.

      Es muss schwer sein, ein Junges zu verlieren.«

      Anschudar konnte das verstehen. Die Lederschwingen empfanden um den

      Tod eines ihrer Jungen nicht weniger Trauer als die Menschen des Volkes um

      den ihrer eigenen Kinder. Er sah erneut auf das Ei. »Ich glaube, es ist gleich

      so weit, Schwingenführer. Das graue Netz breitet sich aus.«

      »Dann sollten wir uns beeilen«, knurrte Mordeschdar. »Du musst deine

      Hände an die Schale legen, bevor sie bricht.«

      Die Schale begann sich unmerklich zu öffnen. Mit den zahlreichen

      Sprüngen, die ihre Oberfläche überzogen, wirkte sie, als habe man ein graues

      Netz darübergeworfen. Lederschwingen hatten keinen Eizahn, mit dem sie die

      dicken Schalen öffnen konnten. Sie mussten ihre Körpermuskeln anspannen

      und die Schwingen ausbreiten, um das Ei zu zersprengen. Die Natur hatte es

      so eingerichtet, damit das Wesen bereit war, sofort nach der Geburt zu

      fliegen.

      Erneut strich das Muttertier um den Geburtsfelsen, und dieses Mal stieß es

      einen leisen Schrei aus, der die Männer zur Eile mahnte. Hastig kletterten sie

      den Pfad hinauf, bis sie endlich auf dem winzigen Gipfelplateau des

      Geburtsfelsens standen. Sie achteten nicht auf die Höhe, in der sie sich

      befanden. Sie waren es gewohnt, in die Tiefe hinabzusehen. Sei es vom

      Boden ihres Hortes aus oder vom Rücken einer Lederschwinge.

      Das Plateau maß keine zehn Längen im Durchmesser und war nahezu

      kreisrund. Der Boden war von den Lederschwingen sorgfältig geglättet und

      anschließend gebrannt worden, damit kein spitzer Stein die Hülle eines Eis

      beschädigen konnte. Eine kräftige Bö hätte die beiden Männer einfach vom

      Felsen heruntergewischt, aber der Wind ging gleichmäßig, als Anschudar mit

      einem langen Schritt an das Ei herantrat, während Mordeschdar am Ende des

      Pfades verharrte. Es mochte an die fünf Längen hoch sein und deren zwei im

      Durchmesser haben. Anschudar zog die gefütterten Handschuhe aus und legte

      die klamm werdenden Hände an die Schale des Eis. Sie fühlte sich warm an

      und vibrierte leicht. Es konnte nur noch Augenblicke dauern, bis es so weit

      war.

      »Es ist groß«, murmelte Anschudar.

      »Ja, das ist es. Wenn du Glück hast, wirst du auf einer außergewöhnlichen

      Schwinge reiten können. Doch beeile dich. Du musst nun ihren Namen

      denken«, mahnte der Schwingenführer. »Rasch, bevor sie schlüpft.«

      Gedanken waren intensiver, wenn man sie in Worten formulierte. Das

      hatte sich Anschudar gut eingeprägt. »Flieg, Showaa, meine Lederschwinge.

      Flieg.«

      »Showaa?« Mordeschdar nickte beifällig. »Ein guter Name. Wollen wir

      hoffen, dass …«

      Es knackte hörbar, und Anschudar trat instinktiv zurück. Andächtig

      starrten die beiden Männer auf das Ei. Die Linien des grauen Netzes

      verbreiterten sich rasend schnell, Spalten entstanden. Auch das Muttertier

      hatte diesen entscheidenden Augenblick erfasst. Elegant schwang es herum

      und glitt sachte heran. Ihre muskulösen Beine berührten die Männer fast, als

      sie dicht über ihre Kapuzen hinwegstrichen und dann mit wohldosierter Kraft

      gegen die zerbrechende Schale stießen.

      Vom