Helmut H. Schulz

Der Springer


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Eine MP-Salve, schlecht gezielt, ging über seinen Kopf weg. Kann auch sein, es wurde gar nicht oder absichtlich schlecht geschossen. Nowacki jedenfalls blieb zurück. Auch dieses Übel hatte Gnievottas Wohnung. Sie erinnerte ihn dauernd an jenen Apriltag 1945.

      Wie große blaue Ziehharmonikabälge hängen die Plastjalousien vor den Fenstern. Katja ist im Badezimmer. Seinetwegen braucht sie länger als sonst, weiß Gnievotta. An einer Raststätte hat er heißen Gulasch gegessen und Brot, und er hat sich zwei Schnäpse genehmigt, die ihn halbwegs auf die Beine brachten. Jetzt will er Kaffee kochen, sitzt auf einem Küchenstuhl, in Arbeitsklamotten, die Zigarette zwischen den Fingern, und wartet auf das Pfeifen des Wasserkessels.

      Im Zimmer deckt Elke den Tisch. Gnievotta ist aus dem Zimmer gegangen, weil Bodo dort sitzt und Zeitung liest, ohne von ihm Notiz zu nehmen. Bodo ist größer als Gnievotta, dünne Handgelenke hat er und knochige Schultern. Auf den Hemdkragen fällt die rotblonde, seidige Mähne. Weißhäutig ist das lang gestreckte Gesicht, mit engen Augenspalten und schmalen Lippen. Viele Rotblonde haben diese weiße, lichtempfindliche Haut. Bodo trägt eine kreisrunde Nickelbrille. Viel Zeit wendet die Jugend für sich auf, eine kostspielige Abgerissenheit ist das, auf Wirkung berechnet. Hier in der Küche verspürt Gnievotta Lust, mit Bodo anzubinden. Ihn ärgert die Gelassenheit und Ahnungslosigkeit, mit der Bodo seinem, Gnievottas, Leben und dem Leben überhaupt gegenübersteht. Er hätte ihn gern ein paar Monate draußen gehabt, bei der Arbeit, bloß um zu wissen, welch Kern unter dieser Art Eleganz steckt.

      Gnievotta trägt noch seine Arbeitssachen, nur die Gummistiefel hat er ausgezogen. Eine von Gnievottas Gewohnheiten, zu Hause in Strümpfen zu gehen. Unten steht der Jeep. Das Fuhrwerk sieht dem Kutscher ähnlich, zwei ermüdete, verdreckte Arbeiter, die ein bisschen Ruhe wollen. Gnievotta geht doch hinüber ins Wohnzimmer.

      Ob es was Neues gebe, fragt er und deutet auf die Zeitung.

      Bodo schüttelt den Kopf, legt die Blätter zusammen und reicht sie Gnievotta. Er habe nur die Schlagzeilen gelesen. Morgens überfliege er stets nur die Schlagzeilen, um informiert zu sein.

      Gnievotta nimmt die Zeitung, entfaltet sie aber nicht, sondern legt sie weg. Wie es in der Schule vorangehe, will er wissen.

      Es gehe voran, sagt Bodo ruhig.

      Gnievotta hat eine scharfe Zurechtweisung auf den Lippen, so wie er Laski rügen würde, wenn der nicht Farbe bedient, aber Gnievotta hält sich zurück. Er fühlt sich herausgefordert, kann nur nicht sagen, warum. Dass ihm der ganze Knabe gegen den Strich geht, ist kein Grund, die sind heute so. Außerdem hat diese Jugend eine weiche Haut. Sein Sohn trägt ein knallrotes Hemd und resedafarbene Hosen. Eine handbreite Gürtelschnalle mit einem Stierkopf hält diese Hose auf den Hüftknochen fest.

      Wenn der Kaffee nicht bald käme, sagt Bodo, dann müsse er ohne Frühstück weg, was er bedaure.

      «Dann musst du eben so gehen», sagt Gnievotta.

      Es ist die Mischung, die Gnievotta irritiert, die deutlich gezeigte Überlegenheit, der Anspruch, als erwachsen zu gelten und doch abhängig zu sein von ihm, Gnievotta. Die Haltung, aggressiv und zugleich verstockt. Gnievotta kann sich darauf nicht einstellen, findet nicht den richtigen Ton und will ihn gar nicht finden.

      Protest, denkt Gnievotta, na schön, warum nicht, aber gegen gutes Essen und weiche Betten, gegen eine gesicherte Zukunft protestiert doch keiner. Eine feste Hand würde hier mehr ausrichten. Katja hat sie nicht, und er ist leider zu wenig da, um die Erziehung des Jungen in die Hände zu nehmen.

      Bevor Bodo die Wohnung verlässt, sieht er noch einmal ins Zimmer. Er trägt jetzt eine Lederweste, Sicherheitshelm und Schutzhandschuhe. Unten wird er sein Moped starten, Fuchsschweif an einer Stahlrute, wird die Gänge einlegen, viel unnötiges Zwischengas, versteht sich, Gnievotta kann das schon hören, dreimal um die Ecke fahren und das Rad vor der Schule aufbocken.

      «Wiedersehen», sagt Bodo.

      «Du hast was vergessen», sagt Gnievotta, «die Sporen.»

      «Sehr witzig», sagt Bodo.

      So sitzt Gnievotta wieder allein, Unruhe im Kopf; sieht herunter auf seine schmierige Cordhose, fühlt das schweißdurchtränkte Hemd an den Schultern kleben und sehnt sich nach einem heißen Bad. Er brennt sich die nächste Zigarette an.

      Elke kommt mit Kaffee. Ihre Haut hat den sanften Glanz bläulicher Perlen. Rosa bis weiß sind die leicht aufgeworfenen Lippen, die keine Gnievotta sonst hat. Ihr Kleid reicht nicht ganz bis zur Mitte der Schenkel. Das Haar ist ebenfalls rötlich, nur ist es heller als Bodos. Wegen der breiten Backenknochen verjüngt sich ihr Gesicht zum Kinn, das gibt ihrem Gesicht einen kindlichen Zug. Augen, ein blaugrünes Email. Elkes Hände sind schlank, gepflegt und schön, von keinem Aufwasch verdorben, durch keine Seifenlauge ruiniert. Welche Gnievotta konnte sich je solche Hände leisten?

      «Wolltest nicht du den Kaffee kochen?», fragte sie und stellt die dampfende Kanne auf den Tisch.

      «Ja», sagt Gnievotta und hält das Mädchen, das ihm so fremd ist, fest, sieht in die blinzelnden, spöttischen Augen Elkes. Wer dieses Mädel mal kriegt, der kann sich auf was gefasst machen. Kunstreich gekämmt ist ihr Haar, sieht er jetzt.

      «Ist was?», fragt sie, stillhaltend, sich ihrer Wirkung auf den Vater bewusst, der letzten Endes auch nur ein Mann ist.

      «Na ja», sagt Gnievotta und lässt sie los. Dieses Fräulein ist seine Tochter. Väter gehen mit halb erwachsenen Töchtern am Arm spazieren; die Väter sagen «mein Kind» zu ihren Töchtern; die Töchter wiederum sagen «Papa», mit gedehnten Vokalen. Das soll es geben. Kommt die Zeit, wo die Väter ältlich werden, nach dem ersten Schlaganfall, dann sagen die Töchter: «Dein Stock, Papa.» - «Danke», antworten die Väter in solchen Fällen.

      Diese Tochter hier sagt einfach: «Hast du schon wieder gesoffen? Kannst du das nicht lassen?»,

      Ich bin heute früh alle gewesen, könnte Gnievotta sagen. Dann kam Kosch, du kennst ihn. Soll man so auseinander gehen? Später, an der Raststelle, habe ich noch zwei Kleine gehoben. Das ist alles. Er sagt aber nichts.

      Der Tisch ist gedeckt. Katja erscheint. Gnievotta betrachtet Katjas Frisur, die großen Hände mit dem roten Lack auf den kurzen Nägeln, schweigend mustert er die breite Gestalt seiner Frau. Nach dieser Frau verlangt es ihn nur noch selten. Tiefbraune große Augen hat sie, ihr Haar ist mittelblond und dicht. Sie ist nicht schön, war es vielleicht nie, bloß jung war sie. Das genügte, obwohl Gnievotta für so was keinen Blick hat und wahrscheinlich nie hatte. Er sucht, was hinter schönen Hüllen steckt, was nützlich ist. Katja ist von seiner Größe, sie erscheint schwerer, als sie wirklich ist. Gegen das Altern kämpft sie, möchte jung sein, jung ist Mode. Nie ist Jugend so idealbildend gewesen wie heute. Nicht, dass Gnievotta viel darüber weiß, er empfindet nur Missbehagen. Hier stimmt was nicht, glaubt er, das Verhältnis zwischen Anspruch und Leistung stimmt auch hier nicht. Die Gnievottas verbindet ein gewichtiges Bündel Jahre, das gewöhnliche Leben eigentlich. Sie sind lange her, die Kälberspiele, gut war's, schön war's. Was denn noch? Gnievotta sitzt am Tisch, kaut schweigend belegte Brote, trinkt Kaffee, den er kochen wollte und doch nicht gekocht hat.

      Nach dem Frühstück stellt er sich unter die Dusche. Bis auf einen schmalen Streifen um die Hüfte ist seine Haut braun, glänzt wie öliges Kupfer, kein Gramm Fett; nur die Narbe, von der Schulter bis zur Rückenmitte, ist rosa und wulstig. In diesen Tagen arbeiteten sie draußen fast nackt, war nicht anders zu ertragen, aber gefährlich, Gummistiefel, Helm und Handschuhe natürlich. Es riecht dort draußen nach Staub, verbranntem Metall und Altöl. Im heißen Wasser hält es Gnievotta lange aus.

      Katja kommt herein und reibt ihn trocken. Ob er wisse, was eine Info ist, fragt sie, und ob alle so dämliche Kinder hätten wie sie, die Gnievottas.

      Es hat keinen Zweck, auf das Gerede einzugehen. Außerdem sind ihre Hände sanfter geworden, gleiten zu den Hüften, und in ihren Augen ist das, was er mal sehr geliebt hat. Kälberspiele also sind vorbei, er hat auch kein Geschick dazu. Er führt sie ins Schlafzimmer, nimmt sich, was er braucht. Sein Atem geht schnell und stoßweise, einen Moment bleibt er auf ihr liegen, erschlafft, legt seinen Kopf in den Winkel, der durch Hals und Schulter gebildet