Helmut H. Schulz

Der Springer


Скачать книгу

viel Zeit wäre schon noch gewesen.»

      «Na ja», sagt Gnievotta, dessen Gedanken schon wieder bunt durcheinander laufen. Die Kinder halte er für ganz in Ordnung, alles zusammengenommen und ihr Alter berücksichtigt. Was er auch glaubt. Von seinen Kindern hat Gnievotta ein heiles Bild, solange er sie nicht sieht. Katja hat sie dauernd um sich.

      «Ich auch», sagt sie, «ich bin die Mutter.» «Ganz was Neues», sagt Gnievotta. Man müsse sich mal an die eigene Jugend erinnern. Sie seien früher auch angeeckt. Er greift zum Nachttisch, wo die Zigaretten liegen, und zündet sich eine an.

      Neulich, sagt Katja, wäre hier einer im Haus erstickt, weil er im Bett geraucht habe und darüber eingeschlafen sei.

      Das Märchen kenne er, sagt Gnievotta, er habe aber noch nie einen getroffen, der im Bett beim Rauchen erstickt sei. Sie lachen beide über diesen ungewollten Witz, und Katja beißt Gnievotta in den Oberarm.

      «Hör auf», sagt Gnievotta. «Was soll das?»,

      Die Liebe geht schnell bei Gnievotta. Dann liegen sie eine Weile still. Gnievotta raucht und denkt nach.

      «Du», sagt Katja, «ab September geh ich zur Abendschule.»

      September, damit kann nur der nächste September gemeint sein, viel Zeit, wer weiß, was bis dahin geschieht.

      «Sigalla rät mir zu», sagt sie, «was meinst du?»,

      Gnievotta grinst. Er kennt doch Sigalla, den leicht vertrottelten Ingenieur, eine Art Bürovorsteher, dem zwanzig Weiber auf dem Kopf rumtanzen. Der rät, dass Katja studiert. Gnievotta glaubt nicht, dass sie ihre Arbeit so wichtig nimmt.

      Er steht auf, sucht den Rasierer und nimmt den zwei Tage alten Bart herunter. Auch Katja steht auf, bringt ihm ein weißes Hemd, eine graue Hose, an der noch das Preisschild baumelt. Die Hosen, die Katja kauft, passen nicht, sie haben nie gepasst.

      «Du hast abgenommen», sagt sie.

      «Kann sein», sagt er. «Du musst ja dauernd was kaufen.»

      «Was du an Hosen ramponierst», sagt sie. Sie zweifelt, ob sie Gnievotta dahin bringen kann, so auszusehen wie Nowacki, so ordentlich.

      Gnievotta schaut auf das Thermometer, auch heute wird ein heißer Tag werden. Die Sonne steht noch nicht hoch, aber es sind schon vierundzwanzig Grad. Katja holt Kornbrand aus dem Kühlschrank, die Flasche ist so kalt, dass sie beschlägt. Katja trinkt stets, was Gnievotta trinkt.

      «Pass auf», warnt er.

      Wie lange er bleibe, fragt Katja.

      Gnievotta erklärt, dass er mit Nowacki sprechen müsse, aber vielleicht erst am Montag abreise.

      «Oder schon in ein paar Stunden», sagt sie.

      Er überlegt, was er mit den anderthalb Tagen machen könnte, falls er bliebe. Mit Bodo müsste er sich aussprechen, was heißt aussprechen, zurechtstuken muss er ihn. Er könnte mit den Kindern auch mal baden fahren bei diesem schönen Wetter, könnte sich von seiner besseren Seite zeigen. Er kehrt hier zu sehr den Erzieher heraus. Seine Kinder sind doch schon halb erwachsen, aber eben nur halb erwachsen. Es fehlt noch viel. Katja beurteilt alles nach dem Augenschein. Aber er, Gnievotta, sieht da tiefer. Manchmal hört man zwar von sehr großen Schwierigkeiten, die andere Eltern mit ihren Kindern haben, aber die sind dann auch danach, die Eltern und die Kinder. Seine beiden haben ein ordentliches Zuhause. Was sie wünschen, bekommen sie, in Maßen, versteht sich. Zuviel soll ihnen nicht geschenkt werden. Am Ende renkt sich alles von selbst wieder ein, vielleicht ist auch überhaupt nichts, sicher.

      «Es wäre gut, wenn du bis Montag bliebst», sagt sie.

      Vielleicht ist es möglich, bis Montag zu bleiben, aber Gnievotta wäre doch gern früher draußen gewesen. Sie liegen beträchtlich zurück. Ohne die Reparaturzeiten an den Meißeln, ohne diese verfluchten Sandsteinschichten, deren Mächtigkeiten keiner genau kennt, ohne diese Hitzewelle, die Kräfte zehrt, würden sie besser dastehen, nicht gut, aber besser. Demnächst würde ihm Schikora ohnehin den Marsch blasen. Es kommt mal wieder alles zusammen. Draußen brennt jetzt die Hitze das Eisen aus, dreht sich der Bohrkopf, schlägt tonnenschweres Gestänge, setzen Männer Flaschen an die staubigen grauen Lippen, schwere Arbeit bei diesem Wetter, auch sonst schwere Arbeit.

      Katjas Hände sind trotz der Hitze kalt. Die Gnievottas kennen sich seit zwanzig Jahren, etwas weniger. Er war ihr Erster und ist vielleicht ihr Einziger geblieben, vielleicht auch nicht. In zwanzig Jahren passiert viel, weiß Gnievotta. Es war bei Bek, eine elende Zeit, als sie zu ihm kam, jede Nacht, bis die Eltern sie rausschmissen. Das ist nie wieder in Ordnung gebracht worden. Katjas Eltern starben kurz hintereinander, vor acht Jahren ungefähr. Gnievotta wohnte in einem Verschlag über dem Bootsschuppen und reparierte Motoren, Sachs, König und andere Systeme. Nowacki holte ihn da raus. Oder war es Kosch? Jetzt also will Katja zur Abendschule.

      Sie fragt, ob er glaube, es lohne noch.

      «Warum soll es nicht lohnen», sagt er.

      «Weil ich nicht mehr jung bin», sagt sie.

      «Probier es», sagt Gnievotta.

      Dann telefoniert er mit Nowacki, hört dessen sichere, etwas leise Stimme. Nowacki sagt, bis jetzt wäre es nirgends zu einem durchgreifenden Wetterwechsel gekommen. Auch für die nächsten Tage erwarte niemand eine Änderung. Im Norden habe das Unwetter viel Schaden angerichtet, es bewege sich langsam in südliche Richtung.

      Gnievotta erwidert, dass ihn Gewitter weniger schrecken als veraltete Maschinen. Er nimmt kein Blatt vor den Mund. Technologie wäre nicht seine Sache, sagt Nowacki. Geologie, Mineralogie, damit sei er befasst. Das reiche ihm vollauf. Nowacki am Schreibtisch, die Armprothese aufgestützt, den Telefonhörer in die Schulter geklemmt.

      «Wie sieht es denn sonst aus?», fragt Nowacki.

      «Nichts Besonderes»" sagt Gnievotta.

      Nowacki rät, gleich wieder abzufahren. Von allem anderen mal abgesehen, müsse eben noch immer mit dem Unwetter gerechnet werden.

      Gnievotta ist verstimmt über Nowackis Beharrlichkeit. Er glaubt einen Anspruch auf zwei ruhige Tage zu haben, wenn er auch mit den Tagen nichts anzufangen weiß. Er werde am Sonntagnachmittag fahren, sagt er, ein Vorschlag zur Güte.

      «Wenn du heute noch fährst», sagt Nowacki, «dann müssten wir uns gleich nach dem Mittag sehen.»

      «Ich weiß nicht», sagt Gnievotta mürrisch, «kommt erst mal her. Sagen wir, gegen vierzehn Uhr?»,

      «Das ist entschieden», sagt Nowacki und legt den Hörer auf. Nutzlos wird der Vormittag vertan, Gnievotta sitzt in der Küche, sieht zu, wie Katja Gemüse putzt, Fleisch zum Braten vorbereitet, hört ihr zu. Dann wird ihm ihr Gerede lästig. Er schützt eine Arbeit vor und setzt sich an den Fernseher. Die könnten vormittags, wenn die Schichtarbeiter zu Hause sind, etwas mehr Fußball bringen, findet er. Das tun sie natürlich nicht, ist ja auch Sommer, Pause im Fußball. Gnievotta nimmt sich die alten Fußballzeitungen vor, Sympathie für die Berliner Klubs konnte er nie aufbringen, die enttäuschen zu oft. Unbeständig sind sie.

      Beim Tischdecken fragt Katja, ob er das arbeiten nenne?

      Dann essen sie und Gnievotta wartet auf Nowacki. Ani und Nowacki passen zueinander. Als Kinder lernten sie sich kennen und verloren sich aus den Augen. Ein paar Jahre haben sie sich verschenkt, die Jugend. Dann fanden sie sich wieder. Ani hatte ein paar Illusionen und Nowacki einen Arm verloren. Gnievotta beobachtet Nowacki, der auf die Spree hinuntersieht. Unbedingt muss er sich jenes Apriltages erinnern, der in Gnievotta noch immer verschwommen lebendig ist, aber als er den Schwager fragt, ob er jetzt zurückdenke, antwortet Nowacki reserviert: «Nein. Wozu?»,

      Es ist nichts zu machen mit einem Mann, dem Gedanken an Vergangenes lästig sind. Vergangenes, das heißt hier auch, an einen Mann mit zwei gesunden Armen denken.

      Sie trinken irgendein fades Zeug, weil Nowacki selten Alkohol trinkt. Trotzdem ist es nicht langweilig. Mit Nowacki kann es nie langweilig werden. Er hockt im Sessel, die langen Beine weggestreckt, und trainiert die bio-elektrische Prothese, ohne sich