Ludwig Witzani

Karibisches Reisetagebuch


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gewaltigen Beleibtheit anheimfielen. Im Unterschied dazu waren die älteren Männer keineswegs fett, im Gegenteil: sehr viele von ihnen saßen als dürre Klappergestelle in den Ecken. Ein altersphasenverschobener karibischer Dimorphismus, der von der Fachwelt noch nicht bemerkt worden war. Im unnachahmlichen „Pimp Roll“ des selbstbewussten Schwarzen schlenderten die Jugendlichen mit ihren jamaikanischen Ballonmützen und Dreadlocks durch die Gassen. In Ufernähe waren improvisierte Schnapsbuden aufgebaut worden, in denen die Männer aller Altersgruppen und Hautpigmentierungen sich volllaufen ließen. Sich dazuzusetzen und mit den Leuten ein wenig zu plaudern wäre reizvoll gewesen, die Aussicht, dann aber auch etwas von dem lebensgefährlichen Spiritus, der in den Buden gebraut wurde, trinken zu müssen, schreckte mich ab.

      Hoch über der Stadt lag das Fort Charlotte, eine englische Festung, die um 1800 erbaut und nach der deutschen Gattin König Georgs III benannt worden war. Ursprünglich hatten 34 Kanonen St. Vincent nach allen Seiten hin gesichert, nun waren nur noch drei Geschütze vorhanden. Ähnlich wie Fort Frederic auf Grenada bildete auch das Fort Charlotte auf St. Vincent einen idealen Aussichtspunkt über einen großen Teil der Insel. Tief unter uns erblickten wir das quirlige Kingston mit seinem Markt und den bizarren Türmen der Kirche St. George und der St. Marys Cathedral.

      Der Blick auf den Inselnorden war uns durch die wolkenverhangenen Berge versperrt. Dabei hatte gerade dort eine der zahlreichen und weitgehend unbekannten Seitenpfade der karibischen Geschichte ihren Anfang genommen. Im Jahre 1675 war im Norden von St. Vincent ein Schiff mit afrikanischen Sklaven gestrandet. Die Sklaven hatten diesen Schiffbruch überlebt und sich mit den kriegerischen Kariben von St. Vincent zur äußert wehrhaften Population der sogenannten „Black Caribbeans“ vermischt. Ihre Stunde schlug im Jahre 1797, als sie von den Engländern gewaltsam auf die Insel Roatan vor Honduras und nach Belize deportiert worden waren (vgl. S. 158ff).

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      Wochenmarkt in Kingston

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      Blick auf die Küste vom Fort Charlotte aus

      Aber zurück nach Kingston. Nach dem Besuch des Forts wanderten wir den Hügel wieder herab und besuchten den botanischen Garten von Kingston. Hier blühten seit seiner Gründung im 19. Jahrhundert nicht nur die endemischen Pflanzen der Karibik, sondern auch der botanische Nachfahre des sagenhaften Brotfruchtbaumes, den Captain Bligh 1793 aus der Südsee nach St. Vincent gebracht haben soll. Wir bewunderten Kokos- und Königspalmen, den Travellers-Tree, Orchideen, Banyanbäume und unzählige Pflanzen, die einfach nur schön waren, ohne dass wir ihre Namen kannten. Sage übrigens keiner, St. Vincent wäre hinter der Zeit zurückgeblieben, denn einer der Exportschlager der Insel war die Knollenpflanze, aus der Computerpapier hergestellt wurde.

      So endete der Tag auf St. Vincent mit einem abschließenden Spaziergang zum Schiff. Auch wenn wir dabei die eine oder andere schmale Gasse durchqueren mussten und dem Alltagsleben der Einheimischen recht nahe kamen, empfanden wir zu keinem Zeitpunkt unseres Aufenthaltes irgendein Gefühl der Bedrohung. Im Gegenteil, bei den meisten Passanten folgte auf einen Augenkontakt ein spontanes „Hey, Man“ und eine grüßende Geste. Durch Rio oder Salvador de Bahia würde man nicht so sorglos herumflanieren können.

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      Botanischer Garten in Kingston- St Vincent

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      Scotish District – Barbados

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      Andromeda Garden – Barbados

      Flach, alt und vornehm – BARBADOS

      Der erste Blick auf Barbados war eine Enttäuschung. Keine im Dunst verschwimmenden Gebirgsketten wie auf Grenada oder St Vincent, keine steil abstürzenden Felsen über heftiger Brandung. Flach wie ein Spiegelei lag die Insel vor uns, ausdruckslos wirkten die Ufer, die wir vom Schiff aus sehen konnten. Warum waren die einen Inseln gebirgig und die anderen flach? Dafür musste es eine Erklärung geben, die ich aber erst später finden sollte.

      Langsam legte die AIDAdiva im Hafenbecken der Inselhauptstadt Bridgeport an. Dass wir uns auf einer der bedeutendsten Inseln der Kleinen Antillen befanden, hätte man auf den ersten Blick nicht vermutet. Aber das Info-Sheet sprach eine eindeutige Sprache. 280.000 Menschen lebten auf der 429 qkm großen Insel, davon allein 100.000 in der Inselhauptstadt Bridgeport samt ihrer Vororte. Das war für ostkaribische Verhältnisse eine ganze Menge. Wie auf allen Inseln der Kleinen Antillen bestand die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung aus Schwarzen und Mulatten. Der Anteil der Weißen betrug gerade mal 4 %, der Rest kam aus aller Herren Länder.

      Die Insel war also zu groß, um auf eigene Faust auf Erkundungsreise zu gehen. Deswegen buchten wir die sogenannte Standardtour „Barbados auf einen Blick“ und marschierten in akkuraten Zweierreihen zu den Parkplätzen, auf dem bereits Dutzende Busse für alle nur denkbaren Touren bereitstanden. Irgendwo in einer anderen Reihe winkten uns August und Marianne freundlich zu. Hatten sie mir meinen Lapsus verziehen?

      Unser Bus war bis auf den letzten Platz gefüllt, die Sitze waren so eng, dass ich mich fragte, wie die groß gewachsenen Nachkommen der Schwarzafrikaner in diesen Gefährten sitzen konnten. Unsere Reiseführerin hieß Claudia und war wie Connie aus Grenada deutschstämmig, repräsentierte aber einen anderen Körpertyp. Sie war extrem schlank, fast ausgezehrt und besaß eine Kreissägenstimme, die mühelos bis in den hintersten Winkel des Busses vordrang. Mit dieser Kreissägenstimme gab sie uns als erstes einen landeskundlichen Überblick, in dem sie Licht und Schatten abwechslungsreich zu mischen wusste. Sie begann mit dem Positiven: von allen Inseln der östlichen Karibik pflege Barbados die besten Beziehungen zu Europa. Düsenjets aus Europa landeten hier auf dem größten Flughafen der Kleinen Antillen, und man besäße die finanzkräftigsten Banken weit und breit. „Pleite ist das Land trotzdem“, fügte Connie trocken hinzu, was allerdings in der Karibik nichts Außergewöhnliches sei. Die Arbeitszeiten lägen zwischen 9:00 Uhr vormittags und 3:00 Uhr nachmittags – ob dann aber auch wirklich jemand da sei, sei Glückssache. „Wirklich funktionstüchtig in Barbados sind nur die Luxushotels, aber zu Preisen, die sich kein Karibe leisten kann“, fuhr sie fort. „Nirgendwo auf den Kleinen Antillen ist die Kluft zwischen der einfachen Bevölkerung und den Touristen so groß wie in Barbados.“

      Ein Blick aus dem Fenster bestätigte dieses Urteil. Die karibische Küstenstraße, die von Bridgetown aus nach Norden führte, war mit luxuriösen Hotels und Apartments zugebaut. In Speightstown befand sich ein internationaler Yachthafen, in dem sich die Schönen und die Reichen trafen. Dreißig, vierzig Meter lange Kähne dümpelten im Wasser, ihre Besitzer saßen auf den Oberdecks und hoben schon zu dieser frühen Stunde die Gläser.

      Unseren ersten Stopp absolvierten wir in Holetown, einem Küstenort im Westen der Insel, an dem die Briten 1625 mit achtzig Siedlern und zehn Sklaven an Land gegangen waren. Wie viele andere Siedler dieser Epoche hatten sie sich zunächst am Tabakanbau versucht, der auf kleinen Gütern mit geringem Sklaveneinsatz betrieben werden konnte. Dann hatte die „Zuckerrevolution“ auch Barbados ergriffen. Zwischen 1645 und 1667 war die Zahl der Plantagen von über zehntausend auf unter tausend geschrumpft, während sich die Zahl der Sklaven auf über 80.000 mehr als verzehnfacht hatte. Eine lukrative Großplantagenwirtschaft entstand, deren Sklavenbestand sich selbst reproduzierte – im Unterschied etwa zu Jamaika, wo die Arbeitsbedingungen so katastrophal gewesen waren, dass der Sklavenbestand in jeder Generation zur Hälfte erneuert werden musste. Im ersten Fall wurden die afrikanischen Ursprünge nach und nach gekappt, im zweiten ständig erneuert.

      Aber auch der Zuckerrohranabau gehörte längst der Vergangenheit an. Die Insel, so Claudia, habe ihre „Rentnerphase“ erreicht, das heißt, sie produziere kaum noch etwas, sondern lebe von auswärtigen Gästen, die überwiegend Rentner seien. Das sollte wahrscheinlich witzig sein,