Elsa Mason

Kalte Schatten


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      Vielleicht ist jetzt der Moment, in dem ich es ihm sagen kann, ohne dass er aufbraust. Ich zögere. Er schaut mich fragend an.

      „Und du? Liebst du mich noch? Oder bereust du manchmal, dass wir nun zusammen leben?“

      „Wie kannst du so etwas überhaupt denken. Ich liebe dich über alles in der Welt“, sage ich.

      „Aber ...?“

      Natürlich spürt er, dass da noch etwas ist. Ich stehe auf, stelle mich wieder hinter ihn und lege die Hände auf seine Schultern.

      „Kein aber, Jo. Es ist nur ... Du wirst die nächsten paar Tage ohne mich zurechtkommen müssen. Ich habe nämlich für morgen ein Flugticket nach München gebucht. Kannst du tagsüber die Hunde mit hinüber in die Arche nehmen? Für die Gäste ist gesorgt. Christine kommt zum Frühstückmachen und Aufräumen.“

      Langsam wendet er sich zu mir um. Seine grünen Augen blitzen vor Zorn.

      „Was heißt das, du hast gebucht? Einfach so? Findest du nicht, wir müssten das erst einmal miteinander besprechen? Oder meinst du, das alles geht mich nichts an? Du hast ja nicht mal gefragt, ob ich dich begleiten möchte! Aber – nein danke, ich bleibe lieber hier.“

      Ich trete einen Schritt zurück und mustere ihn kühl. Meine zärtlichen Gefühle sind verflogen.

      „Siehst du, ich wusste doch, wie du reagieren würdest. Deshalb habe ich allein entschieden. Tut mir leid. Ich werde morgen fliegen. Ich muss hinfahren!“

      Er schüttelt den Kopf, bedenkt mich mit einem fassungslosen Blick und wendet sich dann wieder dem Bildschirm zu. Sein Rücken bildet jetzt eine schroffe, abweisende Wand, doch ich stelle befriedigt fest, dass sein Ärger mich nicht einschüchtert. Er beginnt, wie wild auf die Tastatur einzuhämmern. Es klingt zornig und verzweifelt. Ich presse die Lippen zusammen, warte noch einen Moment, dann verlasse ich leise den Raum.

      Im Kamin lege ich ein paar Holzscheite nach. Flammen schießen hoch. Die beiden Hunde folgen mir wie Schatten in den benachbarten Raum, die Bibliothek, die das Feuer angenehm erwärmt hat.

      All dies hat mir Mira, meine großzügige Freundin, vermacht. Haus, Garten, Bibliothek. Wie sehr ich sie immer noch vermisse. Die Jahre, die ich bei ihr gelebt und mit ihr gearbeitet habe, sind die wichtigsten und erfülltesten meines Lebens gewesen. Wie man so schön sagt: Es war ein Privileg, sie gekannt zu haben. So abgedroschen das klingt, so ehrlich meine ich es. Und weil mir wegen Julia ohnehin schwer um’s Herz ist, treten mir jetzt bei dem Gedanken an Miras Tod vor fünf Jahren Tränen in die Augen.

      Die Bibliothek ist der einzige Raum in unserem Haus, in dem ich, ähnlich wie in einer Kirche, so etwas wie Ehrfurcht empfinde. Dies ist mein Raum. Ich liebe die alten breiten Eichendielen, die leise unter meinen Schritten knarren, bis ich den abgewetzten persischen Teppich erreiche, der alle Geräusche dämpft. Dort befindet sich mein Arbeitsplatz, an dem ich zu Miras Lebzeiten unzählige Stunden mit ihr gesessen und über unsere Reisen gesprochen habe. Hier diskutierten wir über botanische Themen und Forschungsergebnisse und überlegten, welche Illustrationen für Miras Veröffentlichungen geeignet sein würden. Hier planten wir den neuen Garten in Elmhill, in dem wir Medizinkräuter züchten würden.

      Ich setze mich an den glänzend polierten, etwas wackeligen Tisch aus Mahagonyholz. Wenn nötig, lässt er sich weiter ausziehen. Dann füllt er die ganze Breite des Raumes. Auf ihm liegen Miras botanische Zeichnungen, Reisetagebücher und meine Notizen ausgebreitet. Zum Fenster hin steht mein Laptop, daneben die alte Schreibtischlampe mit dem schilffarbenen Glasschirm.

      Unglaubliche Schätze füllen die hohen Bücherregale in diesem Raum. Hier befinden sich nicht nur die von Mira gesammelten Botanikbücher aus aller Welt, sondern auch alte medizinische Werke und Kunstbände, die sie von ihren Eltern und Vorfahren geerbt hat. Hier könnte ich Monate, wenn nicht Jahre verbringen, ohne mich je zu langweilen.

      Bis spät in die Nacht übertrage ich Miras Notizen zu ihrem letzten Werk über peruanischen Schamanismus auf den Computer. Erinnerungen überfluten mich an unsere Nächte in einer Hütte im Regenwald, als ich mir unter dem Einfluss von Ayahuasca die Seele aus dem Leib gekotzt habe, während Mira von unvergleichlichen Rauscherlebnissen schwärmte. Irgendwann höre ich mit halbem Ohr, wie Jo auf seinem Flügel Schumanns „Waldszenen“ spielt. Die Musik schleicht sich in mich hinein wie ein warmer Cognac. Später geht er nach oben, erst ins Bad, dann ins Schlafzimmer. Entgegen seiner Gewohnheit fragt er mich nicht, ob ich auch ins Bett komme.

      6

       VIKTORIA

       Vorher

      Vor genau zwei Monaten war ihr Leben aus dem Ruder gelaufen. Die Diagnose war schlecht. Sehr schlecht. Und die Prognose?

      „Ich will Ihnen gar nichts vormachen, Frau Kollegin. Mit dieser Art von Tumor überleben etwa zehn Prozent das erste Jahr.“

      Der Onkologe strich sich über den glattrasierten Kopf, seine Mundwinkel verzogen sich grimmig nach unten. So genau hatte sie es nicht wissen wollen. Statistiken klangen oft alarmierend. Jeder Einzelfall entwickelte sich anders, und sie, sie war ein Stehaufmännchen.

      Die Schmerzen, die Krämpfe – natürlich hatte sie viel zu lange gewartet. Es gab immer einen Grund, eine Untersuchung hinauszuschieben. Und an manchen Tagen ging es ihr ja auch richtig gut. So gut, dass sie das Ganze oft vergaß.

      Nach der Magenspiegelung erklärten sie ihr, sie hätten ein großes Magengeschwür gefunden. Sie könne sich glücklich schätzen, keinen Magendurchbruch erlitten zu haben. Und natürlich fanden sie Helicobacter, aber das hatte sie längst geahnt. Dieses widerliche Bakterium musste an sich noch nichts bedeuten, zumindest nicht gleich Krebs, auch wenn sein Vorhandensein das Krebsrisiko erhöhte.

      Ein paar Tage später kam der Anruf aus der Internistenpraxis.

      „Leider gibt es schlechte Neuigkeiten. Die Magenspiegelung hat ergeben, dass es sich um bösartige Zellen, also ein Magenkarzinom handelt. Sie sollten so schnell wie möglich zu einem Arztgespräch kommen.“

      Sie spürte, wie ihr ganzer Körper sich versteifte, als verknote jemand sämtliche Muskeln zu einem Strang. Ihr Mund war mit einem Mal völlig trocken, die Kopfhaut prickelte wie unter unzähligen kleinen Nadeln, die auf ihren Schädel einstichelten. Und ihr Magen drohte in einem plötzlichen Krampf zu explodieren, so dass ihr Oberkörper ohne ihr Zutun nach vorn klappte. Als der Schmerz verebbte, kauerte sie sich in die Ecke neben dem Telefon. Ob die allen Patienten eine Krebsdiagnose am Telefon mitteilten?

      “Sind Sie noch da? Hallo?“, tönte die junge Stimme der Sprechstundenhilfe aus dem Hörer. Viktoria atmete schwer und bemühte sich, das Zwerchfell zu entspannen. Den Schmerz bis ins letzte Molekül ausatmen. Dann wieder tief einatmen und den Atem anhalten, jede Körperzelle mit frischem Sauerstoff versorgen.

      „Ja, es geht schon wieder“, keuchte sie schließlich in den Hörer. „Moment, ich hole meinen Kalender.“

      Sie zog sich mühsam an der Türklinke neben ihrem Kopf hoch und verschnaufte einige Momente mit gesenktem Oberkörper, die Hände auf die Knie gestützt. Sie würde es sich nicht nehmen lassen, Ella aufwachsen zu sehen. Das allein war Grund genug zu kämpfen, zu überleben.

      Am nächsten Tag saß sie dem Internisten gegenüber.

      „Als allererstes muss der Magen komplett entfernt werden, denn der Tumor ist sehr groß und aggressiv. Wie Sie wahrscheinlich wissen, ist es kein Problem, ohne Magen zu leben. Nach der Operation sehen wir weiter. Hoffen wir, dass die Lymphknoten noch nicht befallen sind. Sie hätten viel früher ...“.

      „Ich weiß“, unterbrach sie ihn barsch. „Können Sie mir einen guten Chirurgen empfehlen? Eine Klinik? Wie lange werde ich außer Gefecht sein? Ich kann meine Patienten nicht zu lange hängen lassen.“

      Es tat ihr gut zu spüren, dass sie ihr Leben wieder in die Hand nahm, auch in dieser bedrohlichen Situation. Der Internist musterte sie, und etwas wie Bewunderung glomm