Elsa Mason

Kalte Schatten


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in seine. Sie ließ es zu, genoss es, wie seine Wärme ihn sie hineinfloss. Ein Strom von Zuversicht und Erleichterung durchflutete sie.

      „Sie müssen jetzt vor allem an sich selbst denken. Ich weiß, wie schwer das ist. Aber eine Gastrektomie ist keine Blinddarmoperation. Nach der Operation müssen Sie sich lange schonen. Der aus einem Stück des Dünndarms geformte Ersatzmagen braucht Zeit, bis er die Magenfunktionen übernehmen kann. Und nicht nur das ... Sie wissen ja selbst, eine Krebserkrankung ist auch psychisch sehr belastend.“

      Sie entzog ihm ihre Hände und lehnte sich im Stuhl zurück.

      „Ich möchte den Eingriff so schnell wie möglich hinter mich bringen“, sagte sie. „Und es gelingt mir immer am Besten, Schwierigkeiten allein zu meistern. Ich bitte Sie also, nicht mit meinem Mann über meine Erkrankung zu sprechen, auch wenn er Sie fragen sollte. Das übernehme ich selbst.“

      Die Operation verlief zufriedenstellend. Allerdings hatte sie trotz starker Schmerzmittel furchtbare Schmerzen in der darauffolgenden Nacht. Am nächsten Tag kam der Onkologe zu ihr.

      „Von fünfundzwanzig entnommenen Lymphknoten waren leider zehn bereits befallen. Sie wissen sicher, dass dies die Chance auf Heilung erheblich reduziert.“

      „Was empfehlen Sie mir? Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es noch?“ fragte sie leise. „Eine Chemotherapie? Bestrahlungen?“

      „Der Nutzen einer Chemotherapie bei Magenkrebs ist umstritten. Dennoch würde ich Ihnen dazu raten, in Anbetracht der hohen Anzahl befallener Lymphknoten. Damit könnten Sie auf alle Fälle Ihre Heilungschancen verbessern.“

      Er sah sie einen Moment lang abwägend an, dann zog er einen Stuhl heran und setzte sich neben ihr Bett. Unter seiner bleichen Gesichtshaut schimmerten dunkle Bartstoppeln, was ihm einen schmutzigen Teint verlieh. Sein Atem roch nach Spearmint, und sie glaubte, als er sprach, weit hinten in seiner Mundhöhle einen Kaugummi zu entdecken.

      „Allerdings sollten Sie wissen, dass diese Chemotherapie sehr belastend ist und schwerwiegende Nebenwirkungen haben kann. Während der Behandlungszeit werden Sie auf gar keinen Fall fähig sein zu arbeiten. Für die ambulanten Infusionen wird Ihnen ein Port unter die Haut eingesetzt, in einem kleinen Eingriff ...“.

      „Also, selbst wenn die Chemo mich nicht umbringt, heißt es noch lange nicht, dass sie etwas nutzt“, unterbrach sie ihn. “Ich werde es mir überlegen. Und bitte halten Sie sich an die ärztliche Schweigepflicht meine Ergebnisse betreffend, besonders gegenüber meinem Mann.“

      Er blickte sie stirnrunzelnd an. Dann drückte er ihre Hand und erhob sich.

      „Überlegen Sie nicht zu lange“, sagte er. „Sobald die Wunden verheilt sind, müssten wir anfangen.“

      Sie wusste, wovon sie sprach. Ihr Mann hatte auf ihre Krebsdiagnose verängstigt wie ein kleiner Junge reagiert. Zuletzt hatte sie ihn trösten und beruhigen müssen, nicht umgekehrt. Es war völlig verrückt, überraschte sie aber nicht. Ihre Hauptsorge galt auch nicht ihm, sondern Ella. Ihre Tochter war gerade eineinhalb Jahre alt, noch so verletzlich, und sie brauchte ihre Mama.

      Gut, vielleicht hatte sie bisher beruflich nicht genügend zurückgeschraubt und sich zu wenig um die Kleine gekümmert, sie zu viel ihrem Mann und der Nanny überlassen. Aber das würde sich von nun an ändern. In ihrem Leben würde sich einiges ändern, das hatte sie nun klar vor Augen. Eine Chemo kam gar nicht in Frage. Sie würde diese Krankheit mit eigener Kraft besiegen, nun, da die Quelle des Übels herausgeschnitten war. Sollte der Krebs zurückkehren, hatte ihr der Onkologe erklärt, hätte sie keine Chance mehr. Dann würde alles sehr schnell gehen.

      7

       29. Januar 2012

       REGINE

      Schneematsch spritzt auf, als das Flugzeug auf der Landebahn aufsetzt. Mein Herz hämmert. Hitzewellen überfluten mich. Ich hasse Landungen, besonders im Winter. Meine Hände zittern, als ich Reisetasche und Mantel mühsam aus dem Gepäckfach über dem Sitz herauszerre. Verstohlen wische ich mir den Schweiß von der Oberlippe.

      „Grüß Gott“, sagt der Beamte an der Passkontrolle. Seine Augen verschwinden fast zwischen Schlupflidern und Tränensäcken. Er mustert mich prüfend und vergleicht mein Gesicht mit dem Passfoto, auf dem ich wie Ulrike Meinhof aussehe. Ohne mit der Wimper zu zucken, erwidere ich seinen Blick.

      Ich reise leicht, nur mit Handgepäck, weil ich hoffe, nur wenige Tage in München zu bleiben. Deshalb laufe ich zielstrebig zum Ausgang, vorbei an den vor den Monitoren der Gepäckausgaben Wartenden. Nicht viel hat sich hier verändert in den letzten zehn Jahren. Aber Flughäfen gleichen sich ohnehin in ihrer sterilen Anonymität. Wie auf Autopilot finde ich meinen Weg hinunter zu der S-Bahn.

      Eine Bahn zur Stadtmitte wartet mit laufenden Motoren. Ich suche mir in einem leeren Wagen einen Platz fern der Tür, stelle die Reisetasche zwischen die Beine und die Handtasche auf den Sitz neben mich, um meine Privatsphäre deutlich abzustecken, und ziehe den Mantel fest um mich. Prompt lässt sich zwei Minuten später ein junger Mann, das dunkle Haar fast kahl rasiert, auf den Sitz mir gegenüber fallen. Menschen sind leider Gruppentiere. Er streckt die Beine breit von sich und schließt die Augen. Verärgert starre ich in die Dunkelheit hinaus, um seinen Anblick und die kratzenden Geräusche aus seinen Kopfhörern auszublenden.

      Bilder steigen in mir auf, lange verdrängte Erinnerungen an das letzte Mal, als ich Julia gesehen habe. Da war sie dreizehn Jahre alt, und zwischen uns hatte sich über die letzten Jahre eine liebevolle, kumpelhafte Freundschaft entwickelt. Sie durfte mich mittlerweile sogar in München besuchen kommen.

      Aber etwas geschah an diesem Tag, und im Bruchteil einer Sekunde zerbrach unsere Freundschaft für immer. Natürlich war alles meine Schuld. Nicht zum ersten Mal zerstörte ich das Leben Anderer. Allerdings hatte ich diesmal einen Mittäter, was natürlich nichts entschuldigte. Von erwachsenen, verantwortungsbewussten Menschen sollte man etwas anderes erwarten.

      Zwischen Joachim und mir hatte es zu der Zeit längst wieder angefangen, seit einer ganzen Weile schon. Das Spiel mit dem Feuer hat mich schon immer gereizt. Mona war wieder schwanger, im sechsten Monat. Mit einem Baby, das keine Zukunft hatte. Aber das wusste Mona zu dem Zeitpunkt noch nicht. Sie war noch mehr aufgedunsen, aber strahlte vor Glück. Denn das Wesen in ihrem Bauch war ein richtiges Wunschkind, auf das sie schon lange hingearbeitet hatte. Ob auch ein Wunschkind für Joachim, wusste ich nicht. Er sagte mir, sie habe ihn immer wieder unter Druck gesetzt. Ist ein Mann unter Druck fähig zum Sex?

      Ich schrecke hoch, als die Bahn bereits zum Stillstand gekommen ist. Verwirrt versuche ich, mich zu orientieren.

      „Ist das hier der Marienplatz?“, frage ich mit lauter Stimme den Mann mit den Kopfhörern, und als der nicht einmal die Augen öffnet, schnappe ich mir kurzerhand meine Taschen, springe auf und stürze im letzten Moment hinaus, ohne zu wissen, ob dies die richtige Haltestelle ist. Auf dem Bahnsteig stelle ich fest, dass mein Instinkt aus der Vergangenheit mich richtig geleitet hat. Jetzt nur noch die Bahn Richtung Münchner Freiheit, dann bin ich an meinem Ziel angelangt.

      Während die Rolltreppe mich an die Oberfläche befördert, überlege ich kurz, für das letzte Stück ein Taxi zu nehmen. Blödsinn, für die paar Minuten Fußweg, denke ich, bereue meine Entscheidung dann aber schnell. Der Schneeregen durchnässt mich innerhalb weniger Augenblicke. Die Hose klebt an meinen Waden, und die Schuhe reiben meine Füße auf, als ich die Leopoldstraße entlanglaufe, geblendet vom Neonlicht der Geschäfte, Kinos, Kneipen und Schnellimbisse.

      Vermummte Passanten hetzen an mir vorbei. Der Schirm einer Frau verfängt sich in meinen Haaren.

      „Ja Kruzi!“, schnauzt die Frau und zerrt an ihrem Schirm. In der anderen Hand schleppt sie mehrere prallgefüllte Plastiktüten.

      „Vorsicht! Nicht so wild ...“, rufe ich, woraufhin die Frau nur noch fieberhafter herumfuchtelt.

      Ich lasse die Reisetasche fallen und löse mein Haar aus dem Schirmgestell. Die Frau schnaubt und stapft dann schimpfend