Jens Wollmerath

Zeit ist nicht das Problem


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Koala-Bär ist ein eher friedlicher Geselle. Die meiste Zeit des Tages verbringt er mit dem Verspeisen von Blättern des Eukalyptusbaums, wobei er bei der Auswahl der Nahrung sehr sorgsam vorgeht, da viele der Blätter eine zu hohe Konzentration von Giftstoffen aufweisen...“

       Ja, Nahrung immer sorgsam zusammenstellen.

      Karl biss ein weiteres Stück von der Schokoladentafel, die er in der Hand hielt.

       Schon wieder zwei Tage rum. Was ist daran jetzt Muße? Langeweile, das trifft es. Absolute Öde und Nichts. Superprojekt. Das wahrscheinlich langweiligste Jahr der Welt. Hab dauernd das Gefühl, etwas zu verpassen, könnte aber nicht mal sagen, was. Gestern Computer und Internet, heute Fernsehen – und nichts, was auch nur im Entferntesten ein Ion von Interesse enthalten hätte. Besser umschalten! Talkshow, na bravo!

       Mann, was für ein Freak. Dieses Pickelgesicht hätte man in den Fünfzigern wohl als Halbstarken bezeichnet.

      „...nee, isch will misch nisch auf eine Frau festlegen. Meine Freundin weiß das aber auch und muss das akzeptieren. Verstehste, isch bin ein Mann, isch will Spaß!“

      Ein Wunder, dass dieser Primat überhaupt Frauen abkriegt. Weiter!

      Im nächsten Programm ging es um junge Menschen, die nach Jahren ihre leiblichen Eltern wiedertrafen. Während im Kanon geflennt wurde, hob das Publikum auf Zeichen des Moderators bei jedem neuen Tränenschwall zu Applaus an.

       Absurd! Warum tu ich mir das an?

      Karl drückte den größten Knopf auf seiner Fernbedienung und sah erleichtert zu, wie der Heulchor mit einem Klicken im Schwarz der Bildröhre verschwand.

       Das Nachmittagsprogramm ist die Hölle! Nichtstun auch!

      Er sprang von seinem Bett auf und schaute aus dem Fenster.

       Sportjackenwetter! Und dann ab in die Stadt. Ich muss unter Menschen.

      An der Kreuzung stand eine Reihe von Leuten, die auf den Bus ins Zentrum warteten.

      Nach vielen endlosen Minuten kam er die Straße entlanggekrochen, fast bis auf den letzten Stehplatz voll besetzt. Doch irgendwie schafften es die Wartenden, sich noch hineinzuquetschen. Karl wurde von seinem Hintermann die Stufe nach oben geschoben und in die Fahrgastmasse gepresst. Normalerweise dauerte die Tour bis zur Stadtmitte eine Viertelstunde.

       Wenn ich bis dahin nicht erstickt bin. Bloß nicht einatmen. Jeder Spürhund wäre sofort wieder ausgestiegen. Willkommen im Reich der stinkenden Ameisen. Immer auf dem Weg von einem Ort zum anderen. Zur Arbeit, zu Omas Geburtstag, zum Einkaufen, zum Schwimmen. Stillstand findet nur nachts statt. Ob wir wohl tatsächlich biologisch so konzipiert sind, dass uns der Schlaf als einzige Möglichkeit zur Erholung ausreicht? Können wir unsere Energiereserven tatsächlich in acht Stunden oder weniger wieder so weit aufladen, einen kompletten nächsten Tag zu überstehen?

      Karl schreckte aus seinen Überlegungen hoch, als der Bus mit einem Ruck zum Stehen kam. Die Türen gingen auf und wie in einem Sog sprudelten die Fahrgäste auf die Straße, rissen ihn mit ins Freie. Es war zwar noch nicht die Haltestelle direkt im Zentrum, aber Karl stieg nicht zurück in den Bus. Er sah sich ein wenig um und lief dann auf die Tür des Einkaufszentrums zu.

      Ah, der unvergleichliche warme Luftzug einer Kaufhaustür. Wie damals mit Mama und Papa am langen Samstag. Geschäfte bis vier geöffnet, was für eine Sensation. Erst Kleiderkaufen, Hosen immer zu lang, aber das lässt sich ja umkrempeln. Und wenn die Knie durch sind, kommen lustige Lederflicken drauf. Am schlimmsten war das Warten, wenn es ein bestimmtes Kleidungsstück für Mama sein sollte. Stundenlang konnte sie Blusen und Pullover in allen Farben und Schnitten anprobieren. Papa dagegen war immer sehr zielstrebig. Es gab eigentlich nur zwei oder drei Geschäfte, die er besuchte, wo er dann auch alles fand, was er brauchte. Und Mama regte sich auf. Probier doch mal was Neues. Niemals! Und zum Schluss gab es Cremehütchen, dieses Zartbitterzeug mit der köstlichsten Zuckerfüllung der westlichen Hemisphäre. Hattest du Glück, war unter der Schokoladenhülle Himbeere oder Zitrone, bei Mokka half nur runterschlucken oder ausspucken.

      Wie ferngesteuert war Karl bei seinen Träumereien auf die Süßwarenabteilung zugestrebt, um vergeblich nach einer Theke mit frischen Cremehütchen zu suchen. Schließlich entdeckte er fertig abgepackte.

      Niemals! Belassen wir es bei der schönen Erinnerung.

      Als er gerade weitergehen wollte, tippte ihm jemand auf die Schulter. Karl drehte sich um und lachte. Vor ihm stand Jegor von der Baustelle.

      „Che Kaarrl, wie gäht ess dir?“

      „Danke, ganz gut, dir aber wohl nicht so, was?“

      Karl blickte auf die Krücken und den dicken Gipsverband um Jegors linken Fuß.

      „Ja, blöder Mist. Da ist so Stahldings von Kran abgerissen. Miehttelfußbrruch.“

      Karl schüttelte den Kopf. „Keine Sicherheitsschuhe, was? Und jetzt?“ fragte er den jungen Russen.

      „Ja, kann nix machen. Kein Fuß, kein Arrbeit, kein Geld!“

      Trotzdem lächelte Jegor.

      „Schön, dich treffen hier!“

      „Hast du Zeit? Lass uns einen Kaffee trinken gehen, ich lad dich ein!“

      „Klingt sähr gut“, antwortete Jegor, „aber gähen wir langsam.“

      Gemeinsam setzten sich die beiden nach einem kurzen Fußweg in ein Café in der Fußgängerzone. Obwohl sie sich erst so kurz kannten, bekam das Gespräch schnell eine persönliche Note, als Jegor von seinem Weg nach Deutschland erzählte.

      „Chast du gehört, was ein Kontingentsflüchtling ist? Nein? Na, wir sind Juden und dürfen nach Deutschland kommen, wegen Geschichte mit Chitler damals!

      „Verstehe. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber mir tut es sehr Leid und...“

      „Stopp! Bitte! Ihr Deutschen und eure Geschichte. Immer schämen. Wie alt bist du? 27 oder 28? Was kannst du für Nazis? Die Russen lieben Deutschland.“

      Jegor streute noch etwas Zucker in seinen Tee.

      „Und Russen chassen auch Juden!“

      „Wie?“

      „Meinst du sind besser als Deutsche? Nie was gechört von Stalin? Als Jude du bist immer auf Flucht. Aber Scheißgeschichte! Wir sind seit drei Monaten chier.“

      „Und woher kannst du so gut Deutsch?“

      „Ist nicht gut. Aber chab ich gelernt in Schule und technische Universität. Bin Bauingenieur. Aber findet man keine Arbeit. Nur schwarz. Machen viele Kollegen, ist aber nicht gut. Alle chaben wir gute Ausbildung. Aber Integration gibt’s nicht. Arbeitslos oder schwarz, das sind die Chance. Verstehst du, chaben wir kleine Zweizimmerwohnung, brauchen Geld. Ich will endlich legal arbeiten! Sozialhilfe reicht nicht.“

      Karl nickte ohne etwas zu sagen.

      „Ist besser chier als dort, aber manchmal vermisse ich Land und Sprache“, fügte Jegor noch hinzu und blickte ein wenig melancholisch aus dem Fenster des Cafés.

      „Sag mal, kennst du eigentlich Oblomow?“ fragte Karl plötzlich.

      „Ja sicherr“, antwortete Jegor überrascht, „mussten wir in der Schule lesen!“

      „Und worum geht es in diesem Roman?“

      Jegor überlegte einen Augenblick.

      „Es chandelt von einem Mann, der zu faul ist, um zu leben. Err liegt nur im Bett und macht nix!“

      Karl schluckte.

      „Ist ein gutes Buch“, fuhr Jegor fort, „aber sehr traurig. Warum frragst du?“