Jens Wollmerath

Zeit ist nicht das Problem


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      „Na, auf mich kannst du zählen. Bis morgen ist mein Fuß bestimmt wieder o.k., ich hab vormittags allerdings erst noch einen anderen Termin!

       3

      Das „A“ über dem gelb geziegelten Hochhaus prangte wie das Symbol einer obskuren Sekte in den Winterhimmel und war schon aus der Ferne zu erkennen. Karl blickte aus dem Fenster des Busses, der an den Kantstein der nächsten Haltestelle glitt.

      „Arbeitsamt“, ließ die krachende Lautsprecherstimme vernehmen.

       Dachte, das heißt jetzt Agentur. Sind nicht so schnell, die Leute vom ÖPNV.

      Karl erhob sich , spürte einen Stich im rechten Fuß und trat in die Kälte. Was der gestrige Tag an Frühlings -versprechungen gemacht hatte, glich der heutige durch nackte Winterrealität wieder aus. Mit beiden Händen hielt Karl seinen Mantel zusammen, presste die Lippen aufeinander und lief auf die Glastüre des Hochhauses zu. Drinnen roch es nach Putzmitteln und PVC-Fußböden aus einer Zeit vor der Einführung von Schadstoffgrenzwerten.

      Karl ging zum Empfangstisch und beugte sich dicht an das Loch in der Glasscheibe.

      „Ich bin Hochschulabsolvent und wollte…“

      „Vierter Stock! Rechts die Treppe hoch, der Fahrstuhl ist kaputt“, rasselte der Pförtner hinter der Scheibe herunter.

       Wunderbar!

      Keuchend erklomm Karl die letzte Stufe und betrat den Wartebereich. In unbestimmter Ordnung standen einige Stühle und Tische herum, an denen bereits zahlreiche Arbeits- suchende Platz genommen hatten. Karl steuerte auf den den Tisch zu, der den einzigen noch freien Stuhl bereithielt.

      „Wo muss man sich denn hier anmelden?“ schnaufte er und hielt sich an der Tischplatte fest.

      Ein Endzwanziger im dunkelgrauen Anzug, blauen Hemd und rot gemusterter Polyester-Krawatte sah ihn von unten bis oben an.

      „Steht doch groß auf der Tafel da!“

      Er nickte mit dem Kopf leicht nach links.

      Karl folgte mit dem Blick und sah auf ein Pappschild, das mit Klebestreifen an der aschgrauen Wand befestigt war. Es klärte ihn darüber auf, dass er sich zunächst in Zimmer 402 zu melden habe, dort eine Nummer erhalten und dann aufgerufen würde.

      Karl hatte nach Eroberung seines Nummernzettelchens kaum neben dem Anzugträger Platz genommen, da bestätigten sich seine Befürchtungen schon.

      „Was hast du denn studiert?“ drang es an sein Ohr.

      „Philosophie“, antwortete er und vermied es den Fragesteller anzublicken.

      „Ach wie schlau, damit kann man doch gar nichts anfangen! Was willst du denn arbeiten?“

      Bevor Karl auch nur an eine Antwort denken konnte, setzte der Quälgeist sein Verhör fort: „Warum hast du denn nicht irgendwas Praktisches studiert? Ich hab zum Beispiel BWL mit Englisch kombiniert, damit kann ich…“

      … eine McDonald’s Filiale in Kenia leiten.

      Karl schwieg und vertiefte sich in eine der Broschüren, die auf dem Tisch auslagen.

      Kurz darauf wurde die Nummer seines Tischnachbarn aufgerufen, der auf der Stelle die Hacken zusammenschlug und aufsprang. Dem Text des Faltblattes konnte Karl entnehmen, dass die Mitarbeiter des Arbeitsamtes stets bemüht seien, den Arbeitssuchenden hilfreich zur Seite zu stehen, diese sich aber auch selbst darum kümmern müssten, schnell einen Arbeitsplatz zu finden.

      Soll das ein Witz sein? Da draußen laufen knapp fünf Millionen Arbeitslose herum. Wie soll man denn da eine Stelle finden? Als ich anfing zu studieren, haben alle was von „Soft-Skills gefaselt. Egal, was du an der Uni machst, Hauptsache du entwickelst diese weichen Fähigkeiten, von denen sowieso niemand weiß, was sie sind und wofür man sie braucht. Geh in die Medien, da brauchen sie solche Leute wie dich. Und dann dieser bescheuerte „Neue Markt“. Agenturen, die man aus dem Boden stampft um sie dann sogleich von selbigem wieder verschluckt zu sehen. Wie soll denn das gehen, Firmen, die nur auf der virtuellen Kohle von irgendwelchen dubiosen Investoren basieren. Und wenn die abspringen – Bumm – das war’s! Vielleicht hätte mir der Quatschkopf eben erklären können, wie das funktioniert.

      Dieser trat genau in dem Moment wieder in den Wartebereich. Er strahlte über das ganze Gesicht und lief direkt auf Karl zu.

      „Hier, hab schon so gut wie sicher eine Stelle! Der schlaue Hasenbein weiß halt, wo es langgeht.“

      Die wulstige Hand hielt Karl ein Blatt vor die Nase.

      „Na, dann viel Spaß bei deinem unbezahlten Praktikum“, erwiderte Karl unbeeindruckt und deutete mit seinem Zeigefinger auf die unterste Zeile des Stellenangebots.

      „Was? Das ist ja…“

      Karl kümmerte sich nicht weiter um die Reaktion des Wirtschaftsexperten und vertiefte sich in ein weiteres Faltblättchen aus dem Sortiment der Arbeitslosenverwalter. Nach einer Stunde war der Wartebereich leer bis auf Karl. Er saß noch an seinem Tisch und wartete, dass seine Nummer endlich aufgerufen würde. Es passierte aber nichts. Schließlich stand er auf und steckte seinen Kopf noch einmal durch die Tür des Anmeldezimmers.

      „Wann bin ich denn dran?“ fragte er die junge Frau, die sich weit in den Bürostuhl lehnte und genussvoll in ein Butterbrot biss.

      Vor Schreck verschluckte sie sich fast an ihrem Wurtsteiggemisch und stammelte mit vollem Mund:

      „Wir haben doch längst Mittagspause!“

      „Aha, und wann werde ich dann bedient?“

      „Heute gar nicht mehr, die Nachmittagssprechzeiten sind donnerstags von zwei bis sechs!“

      „Das ist ja nicht zu fassen! Wozu gibt es dann diese bescheuerten Nummern, wenn sowieso nur Dienst nach Vorschrift gemacht wird?“

      Karl zerknüllte den Zettel in seiner Faust und verließ wortlos das Büro. Die Uhr im Wartebereich zeigte kurz vor halb eins.

       Um halb zwei bin ich mit Steve zum Streichen verabredet. Prima! Eine Stunde lang kann ich mich jetzt noch über diese Sesselpupser aufregen.

      Karl rutschte auf dem Treppengeländer hinunter, humpelte durch die Drehtür ins Freie und erwischte tatsächlich noch den Bus. Während der Fahrt betrachtete er die Stadt, in der er nun schon so lange wohnte.

       Komisch, mich hat es nie so richtig in die Ferne gezogen!

       4

      Über die Ostsee wehte der Wind und trieb die Wellen an den Strand. Hier und da riss die Wolkendecke auf und einige Sonnenstrahlen blitzten durch das Grau. Die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, Mütze in die Stirn gezogen, kämpfte Karl auf der Strandpromenade gegen die Ostbriese, die wie Sandpapier über seine Wangen rieb. Schließlich erreichte er ein Backsteinhaus, das von zwei Krüppelkiefern eingerahmt war und sich unmittelbar am Strandweg hinter dem Deich duckte. An der Eingangstür des Ladenlokals im Erdgeschoss klebte ein Zettel mit dem Hinweis:

      Hier öffnet im Frühjahr die „Strandbar“ von Steve K.

      Karl wollte gerade klopfen, als Steve schon die Tür aufriss und ihn angrinste. In seiner Rechten hielt er eine Anstreichrolle.

      „Gut, dass du da bist, habe gerade mit der Küche begonnen.“

      Er ließ Karl herein, der sich interessiert umsah.

      „Schickes Plätzchen hast du dir hier ausgesucht. Ich glaube, ich werde öfter hier sein.“

      „Wann immer du willst, aber jetzt musst du mir erst mal helfen, die Bude hier auf Vordermann