Jens Wollmerath

Zeit ist nicht das Problem


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stand er auf und ging zurück in sein Schlaf-zimmer. Er griff zum Telefon, das auf dem Fußboden neben dem Bett stand. Nachdem er eine kurze Nummer eingetippt hatte und den Hörer an sein Ohr hielt, sah er sich in seinem Zimmer um. An der Wand gegenüber stand ein Holzregal, das er gemeinsam mit seinem Vater gebaut hatte. Es enthielt die mächtige Sammlung seiner Schallplatten und Bücher. Es gab…

      „Städtische Klinik, Notaufnahme!“

      Die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung klang müde und genervt.

      „Hallo Susanne, ich bin’s, Karl.“

      „Na, das ist ja ’ne Überraschung. Kannst du nicht schlafen?“

      „Ich brauch einen kleinen Denkanstoß, meinst du, du kannst mir helfen?“

      „Auf keinen Fall hier über die Notrufnummer! Komm doch vorbei, bis jetzt ist es ziemlich entspannt.“

      „Gut, mach ich. Bis gleich!

      Karl legte auf. Hastig zog er sich an und verließ seine Wohnung. Draußen war es eisig, ein praller Vollmond beleuchtete die Stadt. Karl lief die Hauptstraße entlang.

       Na, dann auf du lonesome Cowboy, ist bloß ne halbe Stunde zu Fuß!

      An der Ecke des Kaufhauses bog er nach rechts ab und beschleunigte seinen Schritt. Sein Weg führte Karl an Dönerbuden, Second-Hand-Läden und Lebensmittelgeschäften vorbei. Tagsüber ging es hier sehr lebhaft zu, jetzt aber war von dem Gemisch aus Sprachen und Gerüchen nichts außer einem Hauch von Müll geblieben.

      „Kannst du nicht aufpassen, Arschloch?!“

      Karl wäre fast über den Schlafsack gefallen, der vor der Eingangstür einer Bank wie eine Wurst auf den Gehweg hinausragte. Aus dem Kopfende des Sacks ragte ein Männergesicht, das ihn mit finsteren Augen ansah.

      „Tschuldigung“, stotterte Karl und machte sich davon. Der Schlafsackmensch rollte sich dicht an die Tür des Geldinstitutes, das auf einem Plakat im Fenster Kredite für „sagenhafte 6,5% Zinsen“ anbot.

      Nach knapp dreißig Minuten erreichte Karl das Krankenhaus. Er überquerte die Einfahrt zur Notaufnahme und presste sich durch die Glastür. Hinter einem Empfangstisch saß eine Frau mit langen braunen Haaren. Ihre Augen leuchteten wie die buchstäblichen Bergseen und ihre Nase war an der Spitze leicht nach oben gebogen. Ihr Mund zog sich wie ein Strich über das Gesicht und verlieh ihrer Mimik auf den ersten Blick etwas Strenges. Die runde Gesichtsform glich das aber wieder aus, als habe sich der Schöpfer im letzten Moment doch um etwas Harmonie bemüht. Abgesehen von ihrer Frisur hätte man sie für Karls Zwillingsschwester halten können.

      „Bin aber schon zwei Jahre älter als er“, hatte sie immer gesagt, wenn sie als Kinder auf Verwandtenbesuch gewesen waren. Jetzt war sie einunddreißig und legte keinen Wert mehr auf den Altersunterschied.

      „Hi, Susanne!“

      Karl stützte sich mit beiden Händen auf die Theke.

      „Guten Morgen, Bruderherz.“

      Der Strich öffneten sich zu einem Lächeln.

      „Willst du hier renovieren?“

      Sie deutete auf Karls Hose, die mit Farbflecken bedeckt war.

      „Oh nein!“

      Karl blickte verlegen an sich herunter.

      „Muss wohl im Halbschlaf daneben gegriffen haben.“

      „Womit kann ich dir mitten in der Nacht helfen?“

      Susanne betrachtete Karl, das Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen.

      „Hast du denn jetzt ein bisschen Zeit?“

      „Genau so lange, bis das Telefon klingelt oder einer von diesen schicken rot-weißen Wagen da draußen vorfährt. Im Moment ist alles ruhig.“

      Karl setzte sich zu seiner Schwester hinter den Empfangstisch.

      „Ach, ich weiß nicht! Ich kann nicht mehr schlafen. Mache mir so einen Kopf wegen der Zukunft!“

      „Wieso das? Du bist doch erfolgreicher Akademiker.“

      „Nützt aber nichts. Wer braucht schon einen Philosophen. Schwesterchen, ich muss Geld verdienen. Fürs Rumgrübeln bezahlt mich keiner. Hast du irgendeine Idee, was ich tun kann?“

      Susanne zuckte mit den Achseln.

      „Vielleicht...“

      „Sag jetzt nicht Medien! Steve hat auch schon davon gequatscht. Ich bin kein Redakteur, kein Regisseur oder sonst was. Alles was ich kann, ist Sekundärliteratur über Platon aus der Bibliothek nach Hause zu tragen und in vier Wochen wieder zurückzubringen. Theoretiker nennt man so was. Was für eine Scheißwelt. Dabei könnte alles so einfach sein. Wenn ich an Steve denke. Der macht einfach seinen Laden auf und schwupps...“

      „He, jetzt hör aber auf. Steve hat immerhin jahrelang geschuftet, um das Startkapital zusammenzubekommen.“

      „Aber ich habe doch auch…“

      „Ja, ich weiß, aber zwischen geistiger und praktischer Arbeit ist nun mal ein himmelweiter Unterschied. Du musst halt einen Weg finden, dein Potenzial irgendwie zu Geld zu machen! Außerdem weiß ja kein Mensch, ob Steve jemals einen einzigen Kaffee verkaufen wird.“

      „Na, du hilfst mir ja prima!“

      In diesem Moment ertönte ein Martinshorn, das von der Hauptstraße herauf rasch näher kam. Kurz darauf hielt ein Krankenwagen vor dem Eingang. Zwei Sanitäter sprangen heraus, zerrten aus der Klapptür eine Trage, die sie Bruchteile von Sekunden später auf einem Rollgestell am Empfangstisch vorbei in den Vorraum der Notaufnahme schoben.

      „Verdacht auf Myokardinfarkt; Reanimation bei Kammerflimmern!“ die Stimme des Sanitäters überschlug sich fast, obwohl er nicht einmal laut sprach.

      Der Mann auf der Trage stöhnte schwach und überließ seinen Körper dem Kampf.

      Susanne federte hoch und griff zum Telefonhörer.

      „Wir brauchen sofort jemanden auf der zwo sieben!“

      Die Trage wurde in ein Zimmer gerollt, in dem auch Susanne und der herbeihastende Arzt verschwanden. Kurz bevor die Tür zuschlug, steckte Karls Schwester noch einmal den Kopf heraus.

      „Mach was aus deinem verdammten Leben, und tu es bald!“ rief sie und tauchte wieder im hellen Neonlicht unter, das wenig später nur noch durch den Spalt der geschlossenen Tür hindurch schimmerte.

      Karl blieb noch einen Moment stehen, unfähig sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Außer ihm befand sich niemand mehr in der Eingangshalle. Seine Hände zitterten, als er den Verschluss seines Anoraks bis dicht unter das Kinn zog, dann stapfte er blass in die Kälte.

       Scheiße, scheiße, scheiße! Wieso muss der Typ genau heute den Herzkasper kriegen! Mann, mir ist sauschlecht. Genauso gut könnte ich da auf der Trage liegen. Der Mensch war höchstens Mitte dreißig.

       Bloß weg hier! Jetzt nur keine Panik! Schön ruhig atmen und denken: ich bin das nicht, der da geht, das sind nicht meine Füße auf dem Boden. Ich werde gesteuert.

       Ob der noch lebt? Lebe ich überhaupt? Kann kaum noch denken. Treibe durch die leblose Stadt wie ein Korken auf der Ostsee!

      Er lief an den Häuserblocks vorbei ohne rechts und links etwas wahrzunehmen. Allmählich beruhigte er sich und sein Körper gehorchte wieder seinen Gedanken. Schließlich blieb er an einer Straßenecke unter den Leuchtziffern einer Uhr an einem Juweliergeschäft stehen und blickte nach oben. Halb vier.

      Karl sah sich um.

       Hier war ich noch nie! Kenne die Gegend nicht!

      Neugierig