Jens Wollmerath

Zeit ist nicht das Problem


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Hausnummer. Karl eilte hindurch und strebte auf eine Baracke im Hof zu, der mit allerlei Baufahrzeugen und Gerätschaften zugestellt war. Keuchend öffnete er die Tür und trat in ein Büro, aus dem ihm eine Hitze-Schweiß-Welle entgegenschlug. Eine Sekretärin mit blondierter Dauerwelle saß hinter einem Schreibtisch und blickte ihn über den Rand ihrer halben Brille an.

      „Ein Esel lese nie!“ war Karls erster Gedanke beim Anblick des Mittfünfzigers der neben der Sekretärin stand, geräuschvoll schnaufte und aufgeregt in einem Aktenordner blätterte.

       Dieser Fleischberg muss wohl Il Chefe sein.

      „Guten Tag, ich heiße Karl Grün. Die Arbeitsvermittlung hat mich geschickt, ich sollte…“

      „Vor allem schon vor ’ner halben Stunde da sein!“

      Die Stimme des Riesen dröhnte übel gelaunt.

      „Um acht haben die angerufen, Sie sollten um halb neun hier sein. Jetzt ist es neun!“

      „Tut mir leid, aber ich hab’s nicht direkt gefunden.“

      Karl wartete auf eine Reaktion.

      Der Dicke klappte den Ordner zu und brummte: „Buchen Sie die Sache mit dem Klärwerk auf Januar, wir kommen sonst in Teufels Küche mit der Steuer!“

      Die Sekretärin hörte auf, Karl anzustarren und nickte stumm.

      „So, nun aber Tempo! Los, kommen Sie!“

      Der Bauunternehmer zwängte sich hinter dem Schreibtisch hervor und führte Karl wieder nach draußen. Dabei fasste er ihn am Oberarm, den er mit Daumen und Zeigefinger umschloss.

      „Student, was?“ knurrte er und verdrehte die Augen.

      Die beiden traten in den immer heftigeren Regen. Karl wurde über den Hof zu einer Garage geschoben, in der ein VW-Bus aus längst vergangenen Tagen stand. An der Wand hingen an einer Reihe von Haken gelbe Regenjacken und Bauhelme aus Kunststoff.

      „Such dir was Passendes aus und dann aber Beeilung!“

       Hab ich dir das „Du“ schon angeboten, Fettwanst?

      Karl schnappte sich schnell den erstbesten Helm und eine Jacke, die etwa seine Größe hatte.

      Der Koloss schob die Seitentür des Wagens auf, ließ Karl auf die Sitzbank klettern und hievte sich dann auf den Fahrersitz. Mit lautem Knattern schoss der Bus kurz darauf durch das Tor und bog auf die Straße, wobei er sich gefährlich neigte.

      „Dieser tollwütige Fleischklops bringt entweder mich gleich ins Grab oder er kriegt vorher einen Herzinfarkt.

      Karls neuer Arbeitgeber klemmte hinter dem Lenkrad und trat das Gaspedal bis zum Bodenblech durch. Der Kopf leuchtete wie eine Cocktailkirsche aus der jeden Moment die Adernwulste herauszuplatzen drohten. Mit beiden Händen musste sich Karl an der Sitzbank festhalten, einen Gurt hatte er im Wagen nirgends finden können. Nach wenigen Minuten befanden sie sich auf der Autobahn und jagten über den nassen Asphalt.

       Aquaplaning!

      Der Bus glitt wie ein Pendel zwischen Mittelstreifen und Leitplanke hin und her.

      Zwanzig Minuten später stieg Karl aus und fühlte die Schweißperlen über Bauch und Brust rollen. Seine Knie zitterten und er versank bis zu den Knöcheln im Morast des aufgeweichten Bodens.

       Ah, und Herr Fettsack tragen Gummistiefel. Sehe ich jetzt erst.

      Auf der Baustelle herrschte ungeachtet des Wetters reger Betrieb. Über dem Rohbau einer Fabrikhalle ragten zwei Kräne empor. Sie ließen an ihren Drahtseilen mächtige Betonplatten herab, die im Inneren des Baus als Zwischenwände eingesetzt wurden. Überall rannten Männer in Bauhelmen und Öljacken umher. Der Regen strömte teilnahmslos auf sie herab.

      „Ihhgooorr!“ schrie der Dicke und einer der Behelmten drehte sich um. Langsam kam er durch den Schlamm auf die beiden zugestapft.

      „Hier, das ist die Aushilfe! Kommt ihr voran?“

      Der Angesprochene nickte und sah zu Karl herüber.

      „Was sohll err maachen?“

      Sein Akzent verriet die osteuropäische Herkunft.

      „Stell ihn an den Mischer, dann kann Mustafa drinnen weitermachen!“

      Der Chef schien die Lage gut zu überblicken.

      „Komm“, sagte der Vorarbeiter und winkte Karl zum Gehen. Sie kämpften sich durch den Matsch während der Fleischklops sich wieder in sein Gefährt zwängte.

      „Ich cheiße Jegor.“ Der Mann streckte Karl seine Hand hin, die fast völlig unter einer Lehmkruste verborgen war.

      „Ich bin Karl!“

      Fast wäre er wieder in einem Erdloch versunken.

      „Wieso müsst ihr bei dem Regen arbeiten? Gibt es nicht so was wie Schlechtwettergeld?“

      Jegor antwortete nicht. Schließlich erreichten sie die Mörtelmischmaschine. Ein älterer Mann mit südländischem Aussehen schaufelte in regelmäßigem Takt Sand in die Trommel.

      „He Mustafa, kannst aufhören. Dahs ist Karrl. Err mischt jetzt!“

      Jegor nahm dem Türken die Schaufel ab und drückte sie Karl in die Hand.

      Offensichtlich nicht enttäuscht, den Job abzugeben, lächelte Mustafa Karl kurz zu und verschwand dann in Richtung des Rohbaus.

      „Kannst du mischen?“ Jegor sah seine neue Aushilfe prüfend an.

      Karl schüttelte den Kopf. Geduldig erklärte Jegor ihm mit vielen langen A und gerollten R, in welchem Verhältnis er Zement, Sand und Wasser anrühren musste. Karl nickte und machte sich dann ans Werk.

       Na, das ist ja leichter als ich dachte!

      Karl warf den Sand mit Schwung in den rotierenden Kübel. Jegor grinste, klopfte ihm auf die Schulter und machte sich davon. Nach einer halben Stunde wurden Karls Bewegungen deutlich langsamer.

      Oh Mann, das zieht höllisch.

      Er schaufelte im Akkord, denn im Abstand weniger Minuten erschienen Bauarbeiter, um die Eimer mit dem fertigen Gemisch abzuholen. War die Maschine leer, musste er neuen Zement und Wasser in den Bottich füllen und weiter Sand hinzufügen.

       Und dann dieser eiskalte Regen. Ich schwitze, friere, spüre meine Arme nicht mehr, ich...

      Um kurz vor zwölf tauchte Jegor wieder auf.

      „Mittagspause!“ Er schlug Karl zum zweiten Mal auf die Schulter.

       Na Gott sei Dank. Ich falle gleich um!

      Er folgte Jegor in den Rohbau, wo die Bauarbeiter unter einer Plastikplane standen oder auf leeren Getränkekisten saßen und ihr Mittagessen zu sich nahmen.

       Und, was haben wir uns mitgebracht, Meister Grün? Oh, nein!

      „Gibt es hier irgendwo einen Kiosk?“ fragte Karl laut in die Runde.

      Statt einer Antwort drückte ihm Jegor ein Stückchen Salami und ein Päckchen aus Alufolie in die Hand. Karl wickelte es aus und guckte etwas erstaunt.

       Was ist denn das? Sieht aus wie mutierte Ravioli.

      „Pelmeni, von meine Frau!“ erklärte Jegor.

      Vorsichtig biss Karl eine Stückchen von der ersten Tasche ab, keine zwei Minuten später hatte er alles verspeist und rieb sich den Bauch.

      „Danke, Jegor! Das war köstlich. Liebe Grüße an deine Frau.“

      „Waruhm machst du dahs hier? Gibt es keine bessere Ahrbeit fur dich?“