Wilfred Gerber

Sehen will gelernt sein


Скачать книгу

war mit sich und dem Erfolg des heutigen Arbeitstages rundum zufrieden. Kein Zweifel nagte an seinem Gewissen. Auf Busse getroffen zu haben, war der reine Glücksfall. Alles sollte so weiter gehen. Seine Gabe, sich in Sprache, Gestalt und Wesen der jeweiligen Situation anzupassen, dass alle dachten, ein anderer stehe vor ihnen, würde schon dafür sorgen.

      Jetzt ist endgültig Feierabend. Das Geld teilen, dann ab zu Helga! sagte sich Wolfi und betrat das Büro.

      Busse war sofort nach ihrer ersten Begegnung die enorme Wandlungsfähigkeit Wolfis aufgefallen. Er bereitete sich auf die Rolle, die er gleich spielen würde, innerlich und äußerlich akribisch vor, nein, er spielte die Rolle nicht nur, er war der Mensch, den er spielte, den zuverlässigen Handwerker, den selbstsicheren Filialleiter der Bank oder gar den Geschäftsführer einer großen Baufirma. Er überließ nichts dem Zufall, wenn er an den Automaten die Konten leer räumte, war er immer ein anderer. Er veränderte die Gesichtsform, die Körpergröße, die Haltung, selbst den Ausdruck und die Farbe der Augen. Busse hätte für sein Geschäft keinen Besseren finden können. Wolfi Wagner war der richtige Mann, auf den er schon lange gewartet hatte. Ohne ihn wäre er nie an das große Geld gekommen. Einen Geschäftsführer zu spielen, sprengte seine Vorstellungskraft. Wolfi konnte es und hatte sogar Spaß daran. Lothar Busse verdiente mit der Feuerschutzfirma und den EC-Karten auch vor Wolfis Eintritt in das Geschäft nicht schlecht, doch mit ihm hatte sich der Umsatz vervielfacht. Wolfis technisches Verständnis und seine praxisnahen Anwendungen machten Automaten, Alarmanlagen, selbst Tresore zum Kinderspiel, außerdem hatte er ein feines Gespür für Verstecke. Nie dauerte es länger als ein paar Minuten, bis er die Karten fand, und die Konten geplündert werden konnten. Wolfi war der talentierteste Mann, mit dem er je zusammengearbeitet hatte, der reine Glücksfall.

      „Susanne, kommst du? Polizeirat Lehmann wartet nicht gern. Die Kollegen aus den Direktionen Weiden, Würzburg, Passau und Garmisch sind vor einer halben Stunde eingetroffen. Also, beeil dich, du sollst doch vortragen.“

      Kriminalhauptkommissar Horst Kruse schloss behutsam die Bürotür der Oberkommissarin Susanne Richter, sie führte ein scheinbar wichtiges Telefonat, eilte, den Aktenordner unter dem Arm, über den leeren Gang des Aschaffenburger Polizeireviers zum gerade eingerichteten Besprechungszimmer der SoKo „Dreist„.

      „Herr Polizeirat.“ Kruse blickte sich im Raum um. „Alle Mitglieder der Soko sind anwesend. Kommissarin Richter wird gleich kommen, sie bearbeitet noch einen Notfall, wir werden trotzdem pünktlich beginnen können. Wenn sie kommt … .“

      „Da sind Sie ja, Frau Richter. Dann fangen wir gleich an.

      Der Leiter unserer SoKo ist Polizeirat Dr. Lehmann. Dr. Lehmann, wollen Sie das Wort ergreifen?“

      „Ich möchte alle Kollegen und Kolleginnen recht herzlich begrüßen. Vorzustellen brauche ich mich wohl nicht, wir alle kennen uns seit Jahren.“ Der Polizeirat lächelte in die Runde. „Die Aufgaben sind klar verteilt, wir arbeiten nicht zum ersten Mal zusammen. Also, wollen wir gleich zur Sache kommen. Sie, Kommissar Kruse, als mein Stellvertreter und operativer Leiter, haben das Wort.“

      „Die Kommissarin Richter wird unsere bisherigen Ermittlungsergebnisse zusammenfassen, von mir vorerst nur so viel.“ Kruse machte eine Pause. Als er sich der allgemeinen Aufmerksamkeit sicher war, fuhr er fort. „Das LKA hat uns alle Untersuchungsergebnisse, die von erkennbaren Mustern denen ähneln, die wir in Aschaffenburg untersucht haben, zugänglich gemacht. Die Straftaten, die uns interessieren, häufen sich in ganz Bayern und unterscheiden sich von den Scheckkartenbetrügereien, die zur Zeit von südeuropäischen Banden begangen werden, auf das Entschiedenste. In Ihren Unterlagen, Kollegen, werden Sie die bisherigen Ermittlungsergebnisse, die den Mustern entsprechen, vorfinden. So viel von mir, jetzt bringt uns die Oberkommissarin Richter detailliert auf den neusten Stand, bitte Frau Kollegin“, forderte er Susanne Richter auf.

      „Wie die Täter an die Scheckkarten gekommen sind, konnten wir bisher nicht klären.“ Die Kommissarin war am Ende ihres Vortrages angelangt. „Wie sie an die Geheimnummer kamen, wissen wir ganz genau. Sie entlockten sie den Opfern immer mit der gleichen Masche. Sie geben vor, ein Angestellter der Bank telefoniere mit ihnen und verwirren sie im Laufe des Gesprächs, dass die Opfer am Ende freiwillig ihre Geheimnummern herausgeben. Es dauert dann nie länger als zehn Minuten, bis die Täter die Konten der Opfer leer geräumt haben. Die Sichtung der verschiedenen Überwachungsvideos hat bisher nichts ergeben. Wir tappen bei der Personenfeststellung noch im Dunklen. Damit, Kollegen, wäre ich am Ende.“ Die Kommissarin wischte sich eine Schweißperle von der Stirn und setzte sich auf ihren Platz.

      „Ich danke Ihnen, Frau Richter“, ergriff Hauptkommissar Kruse nach einer kurzen Pause, der fragende Blick zum Polizeirat signalisierte ihm sein Einverständnis, das Wort.

      „Ich denke, wir haben alles gehört, was es zu hören gab, und machen uns schnell an die Arbeit. Wir beginnen mit dem obligatorischen Aktenstudium in den Arbeitsgruppen.“

      „Herr Dr. Lehmann, wollen Sie noch etwas sagen?“

      „Nein, Kruse, Sie haben völlig recht, wir sollten schleunigst mit der Arbeit beginnen. Ich verabschiede mich und wünsche viel Erfolg, werte Kolleginnen und Kollegen. Ihre Berichte gehen über Hauptkommissar Kruse direkt an mich“, beendete der Polizeirat die Besprechung.

      Der Einsatzraum war leer, die Oberkommissarin schon an der Tür, als Kruse sie zurückrief. „Susanne, bleibst du bitte noch?“ Er setzte sich auf seinen Platz und blätterte hastig in den Akten. „Bei den letzten Videoüberwachungsbildern ist mir etwas aufgefallen. Es war schon die ganze Zeit in meinem Kopf, aber eben ist mir klar geworden, was es ist.“ Er reichte der Kommissarin sechs Fotoabzüge. „Bisher haben wir keine Erkenntnisse über das Aussehen der Täter. Die Videos geben keine gesicherten Beweise her, dass einzelne Täter an den Bankautomaten häufiger in Erscheinung traten. Wir konnten noch keine Übereinstimmungen feststellen. Werfe mal einen Blick auf den Fußboden vor den Automaten. Fällt dir etwas auf, Susanne?“

      „Da steht ein Aktenkoffer, na und?“ Die Kommissarin schüttelte den Kopf. „Was soll das, Horst?“

      „Gut“, grinste Kruse. „Und hier, und hier, und hier. Wenn ich recht habe, ist das der erste richtige Anhaltspunkt.“

      10

      „Herr Lauth, da sind wir wieder.“ Wolfi Wagner und Lothar Busse standen am Dienstag mit ihren Werkzeugkoffern pünktlich um acht vor der Haustür des Einfamilienhauses.

      „Kommen Sie rein, meine Herren“, forderte Lauth die beiden auf. „Ich habe gerade Kaffee aufgebrüht, möchten Sie auch einen? Nun kommen Sie, setzen Sie sich bitte.“

      Wolfi und Lothar Busse schwiegen, warteten am Tisch, bis Lauth zurückgekehrt war und Kaffee einschenkte.

      „Ich muss Ihnen etwas Merkwürdiges erzählen“, begann er nach dem ersten Schluck. „Als Sie letzte Woche gerade raus waren, bekam ich einen Anruf von meiner Hausbank. Ein Dr. Fischer sagte mir, dass ein Unbekannter mit meiner Scheckkarte versucht hat, vom Konto Geld abzuheben. Weil dieser Dr. Fischer meine Karte sofort sperren wollte, redete er ununterbrochen auf mich ein, bis ich so verwirrt war und ihm schließlich meine Pin-Nummer verraten habe. Als ich etwa eine Stunde später bei meiner Hausbank telefonisch nachfragte, kannten sie einen Dr. Fischer überhaupt nicht. Sie baten mich, in die Filiale zu kommen. Dort erfuhr ich, mein Konto wurde inzwischen bis auf den letzten Pfennig abgeräumt. Ich ließ die Karte sofort sperren, das nützte mir aber nicht viel, ich hatte leichtfertig meine Geheimnummer am Telefon herausgegeben und muss nun für den Schaden alleine aufkommen. Meine Herren, darum bin ich zurzeit etwas klamm und möchte Sie bitten, die Feuermelder etwas später einzubauen. Das alles ist mir furchtbar peinlich, das müssen Sie mir glauben.“ Er beugte sich verlegen vor, seine Augen baten um Verständnis.

      „Das ist ja eine unglaubliche Geschichte“, empörte sich Wolfi. „Wir haben natürlich für ihre momentane Situation Verständnis. Wissen Sie inzwischen, wo Sie Ihre Scheckkarte verloren haben?“

      „Das ist ja das Merkwürdige, ich kann mich nicht erinnern, wann ich sie zuletzt benutzt