Wilfred Gerber

Sehen will gelernt sein


Скачать книгу

dann drehte er den kleinen Hebel nach oben und zog durch den Wirkstoffkanal des Spenders eine kräftige Portion in beide Nasenlöcher. „Du brauchst mich nicht zurück zum Bahnhof fahren. Ich laufe lieber zu Fuß in die Altstadt. Ein bisschen frische Luft wird mir gut tun.“ Der Mann stieg umständlich aus dem Auto. „Ich rufe dich morgen an. Danke, dass du so spät noch gekommen bist.“ Der Mann schlug die Beifahrertür zu, und das Auto verschwand schnell in Richtung der Friedberger Warte.

      Er lief beschwingt, mit strahlenden Augen auf den Main zu. An der Kreuzung Berliner Straße bog er nach links in die Altstadt, auf dem Weg dorthin zog er noch einige Male das weiße Pulver aus dem Spender durch die Nase. Unwiderstehlich fühlte er sich, überschritt die Schwelle der vergitterten Holztür unter der hell leuchtenden Lichtreklame, und als er den „Mond von Habana„ betrat, hüllte ihn gleich der typische Geruch der überfüllten Kneipe sanft ein. Er setzte sich zufrieden an den Tisch. Die Männer und Frauen begrüßten ihn stürmisch, waren sie doch Freunde oder gute Bekannte. Gleich bestellte er für alle ein Glas Bacardy-Cola. „Heute Nacht“, warf er in die fröhliche Runde. „Heute Nacht können wir unbesorgt feiern. Die nächsten drei Tage muss ich nicht arbeiten. Mein Chef hat mir endlich einmal freigegeben.“ Heimlich steckte Wolfi Wagner unter dem Tisch seinem Freund Reinhard Amper das Tütchen zu.

      6

      „In unserem Einzugsgebiet häufen sich in letzter Zeit die EC-Kartendelikte“, eröffnete Kriminalhauptkommissar Kruse die Besprechung im Polizeirevier Aschaffenburg Stadt. Die raffinierten Scheckkartendelikte, Diebstähle und Einbrüche hatten in seinem Zuständigkeitsbereich derart zugenommen, dass etwas geschehen musste. „Die Straftaten scheinen alle nach dem gleichen Muster ausgeführt zu werden. Erst entwenden der oder die Täter, ich bin fest davon überzeugt, es sind mehrere, die EC-Karte, und wenn die Pin-Nummer nicht dabei liegt, wird sie durch den Anruf eines Dr. Fischer, Dr. Langhans oder Dr. Lehmann von der zuständigen Hausbank der Opfer überaus geschickt ausspioniert. Die Täter sind dabei so dreist, dass der Angerufene am Schluss total verwirrt ist und nicht mal bemerkt, dass er seine Geheimnummer herausgegeben hat. Sie telefonieren immer aus einer Telefonzelle in der Nähe der Bank und sind dabei so frech, dass sie das Opfer, um es in Sicherheit zu wiegen, zurückrufen lassen. Dann plündern sie, unmittelbar nachdem sie in den Besitz der Pin-Nummer gekommen sind, das betreffende Konto bis auf den letzten Pfennig. Wahrscheinlich dieselben Täter schrecken auch nicht vor hervorragend geplanten Einbrüchen zurück. Sie gehen mit einem ausgeklügelten Plan und einer erstaunlich hohen kriminellen Energie vor. Vom Einbruch bei dem Juwelier, bei dem ich, so unwahrscheinlich es auch klingen mag, selbst anwesend war, vom dreisten Bruch aber nichts mitbekam, habe ich Ihnen schon berichtet. Vom LKA sind umfangreiche Berichte eingegangen, unsere Täter sind höchstwahrscheinlich in ganz Bayern tätig, und es ist angeregt worden, eine Sonderkommision einzurichten. Das LKA ermittelt, ob unsere Täter bundesweit in Erscheinung treten. Die Hinweise verdichten sich, dass dem so ist, die Intensität der Straftaten lässt auch darauf schließen, dass hier eine organisierte kriminelle Vereinigung am Werk ist. Oberkommissarin Richter wird jetzt zusammenfassen, welche Ermittlungsergebnisse uns bisher vorliegen.“

      „Susanne.“ Hauptkommissar Kruse ordnete seine Unterlagen, nachdem die Kommissarin ihren Bericht beendet hatte. „Susanne“, sagte er leise, als auch der Letzte das Büro verließ. „Warte bitte, ich will dir noch was sagen. Mein Freund Werner Hauptmann vom LKA hat mich heute Morgen angerufen. Er sagte mir, die Soko wird schon nächste Woche eingerichtet. Unsere Staatsanwaltschaft bleibt die ermittelnde Behörde, ich bin als stellvertretender Leiter der Soko „Dreist„ vorgesehen, und Polizeirat Lehmann wird der Chef. Ich kann sehr gut mit ihm, er wird mir bei den Ermittlungen keine Steine in den Weg rollen, die gesamte operative Arbeit fällt sowieso in meine Kompetenz. Ich bat dich zu bleiben, weil ich dich fragen wollte, hast du Interesse, mit mir in der Soko ein Team zu bilden? Ich schätze dich nicht nur als Frau, nein, ich weiß deine kriminalistischen Fähigkeiten durchaus zu würdigen.“ Kommissar Kruse zauberte ein gewinnendes Lächeln auf sein sonst so mürrisches Gesicht. „Was ist nun, bist du mit von der Partie?“

      „Da brauche ich keine Bedenkzeit, Horst.“ Susanne Richter erwiderte erfreut sein Lächeln. „Natürlich bin ich dabei, nicht nur aus Karrieregründen. Danke, dass du gleich an mich gedacht hast. Das werde ich dir nicht vergessen. Wollen wir später noch etwas trinken gehen?“ Unsicher suchte sie den Blick ihres Vorgesetzten.

      „Da hast du aber Glück, Susannchen, heute ist ein guter Tag. Ursula spielt mit ihrer Damen 40-Mannschaft Tennis, und dann kann es bei ihr spät werden. Wir haben sowieso seit einer Stunde Feierabend. Ich packe nur noch schnell zusammen, dann treffen wir uns in zwanzig Minuten im Einhorn. Es braucht uns niemand zusammen weggehen zu sehen. Du kennst das Gerede hier im Revier. Also, bis gleich“, verabschiedete Kruse seine Untergebene.

      „Entschuldige, der Polizeirat hat mich kurz vor dem Ausgang noch abgefangen.“ Hauptkommissar Kruse setzte sich schwer atmend zu Susanne Richter an den Tisch.

      Nur zwei frühe Gäste am Tresen waren außer ihnen in der Kneipe, sie hatten das Hinterzimmer ganz für sich allein.

      „Hier kennt uns niemand“, quengelte Susanne Richter zur Begrüßung. „Du kannst mich ruhig küssen, und deine Verspätungen kenne ich auch, lieber Hauptkommissar Kruse. Kannst du, wo doch deine Frau heute bis zum späten Abend nicht in eurer gemeinsamen ehelichen Wohnung weilt, endlich mal wieder mit zu mir kommen?“

      „Lass uns erst was trinken, danach sehen wir weiter. Einen Riesling, wie immer?“, fragte Kruse grinsend.

      „Herr Ober, bitte einen Rheingauer und ein großes Pils“, bestellte er beim herbeigeeilten dicken Oberkellner.

      7

      Reinhard Amper hatte sich durch eigene Schuld in die unangenehme, bedrohliche Situation gebracht. Darum wollten sie ihn unwiderruflich zu ihrem Bruder nach Kas an der kleinasiatischen Küste schicken. Dort sollte er für eine Weile untertauchen, bis sich alles beruhigt hätte.

      Der starken Empfehlung der Brüder fügte er sich widerspruchslos, steckte die Flugtickets ein, ergriff den bereits von ihnen gepackten Koffer und stieg drei Stunden später in die wartende Maschine. Den Flug und die beide Passkontrollen überstand er problemlos.

      Mohamed holte ihn vom Flughafen ab, gab ihm Geld und lieh ihm sein Motorrad.

      „Komm erst mal zur Ruhe, und mach bei uns ein paar Tage Urlaub. Du musst versuchen abzuschalten. Hier wirst du wohnen, wenn du wieder zurück bist“, sagte Mohamed Cis und zeigte Reinhard Amper das Zimmer in seinem Haus am Stadtrand von Kas. Es lag im zweiten Stock, die weißen Gardinen wehten sanft in der Luft vor dem weit geöffneten Fenster, das einen atemberaubenden Blick aufs Meer hatte, den Amper in seinem jetzigen Zustand nicht beachtete, nur abwesend nickte.

      „Komm zurück, wenn dir danach ist. Meine Telefonnummer hast du ja. Hier ist die Adresse von unserem Bruder in Antalya, er weiß, dass du heute kommst. Also, bis bald.“ Mohamed entließ Reinhard auf die Straße, die flog so dahin, als er auf dem schweren Motorrad kräftig Gas gab und keinen Blick für die lykischen Gräber auf den Bergen entlang der Küstenstraße übrig hatte.

      Er wollte nur die Kilometer bis zum Ziel abfahren, den Wind im Gesicht, die Kraft der schweren Maschine zwischen den Beinen, die noch immer kräftigen Strahlen der Nachmittagssonne auf seinem Körper spüren.

      Zu oft in den letzten Wochen hatten sich zwischen die Erinnerungen seltsame Visionen gemischt, die er nicht zu deuten wusste, und deren Wucht ihn weder am Tag noch in der Nacht zur Ruhe kommen ließ.

      Später versuchte er zu meditieren, wenn aber die Bilder vor seinem geistigen Auge erschienen, ergriff ihn jedes Mal eine vorher nie gekannte Furcht, sofort brach er die Meditation ab und brauchte eine ewig lange Zeit, sich wieder in der Realität zurechtzufinden. Trotzdem ließ er nicht davon ab, das Ergebnis war immer dasselbe.

      Alles fing damit an, dass Reinhard Amper plötzlich von heute auf morgen sah, wie viel Lebenszeit einem Menschen noch verbleiben würde, und er versuchte, diese Visionen sofort abzuschütteln. Ich spinne, das sind die überreizten