Wilfred Gerber

Sehen will gelernt sein


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Freitag. Bis dann, Manfred“, verabschiedete sich Kahl von seinem Freund.

      Das Tor der Schleuse öffnete sich wie von Geisterhand, und bevor es sich wieder schloss, blieb Milzberger die Zeit, um Kahl noch einmal zu winken, dann hatte ihn der Knast geräuschlos verschluckt.

      Soll ich zurück in den „Schmendrik„ fahren? fragte sich Moritz Kahl. Das Gefängnistor hat mich mehr mitgenommen, als ich mir eingestehen will. Das ist der zweite Berufsverbrecher, den ich zum Freund nahm, gestand er sich widerwillig ein.

      Der andere, Robin Fischlauf, war sein Arbeitskollege in der Kommunalen-Wohnungs-Verwaltung-Pankow gewesen. Seine Kindheit fand sorgfältig behütet in einer sozialistisch kleinbürgerlichen Familie statt, doch schon bald führte ihn der Weg fort vom Pfad der Tugend.

      Drei Tage vor seinem vierzehnten Geburtstag wurde er erwischt, als er gemeinsam mit zwei Freunden in ein Objekt der Gesellschaft für Sport und Technik, kurz GST, deren eigentlicher Zweck darin bestand, die Jugend des Landes vormilitärisch zu erziehen, versuchte einzubrechen und volkseigene Luftgewehre widerrechtlich in sein privates Eigentum zu überführen.

      Für die Straftat wanderte er für mehrere Jahre in den Jugendwerkhof, in dem die Erzieher das Wesen der Jugendlichen sofort brachen und sich danach intensiv mühten, aus den nun geborstenen Seelen allseits gebildete, sozialistische Persönlichkeiten zu formen.

      Sie wunderten sich, dass es ihnen auch mit starkem Druck nicht gelang. Vielmehr entwickelte sich in dem verdeckten Jugendstrafvollzug eine eigene, nicht kontrollierbare Dynamik, die es, getreu der darwinschen Lehre, nur dem Stärksten und Skrupellosesten erlaubte, sich durchzusetzen. Die niedrigsten Instinkte blühten in der menschenfeindlichen Umgebung auf, und die körperliche Gewalt wurde zur Normalität.

      Hier erhielt Robin Fischlauf die wichtigste Prägung, doch seine angeborene Intelligenz erlaubte ihm, von den meisten unbemerkt, alle anderen zu beherrschen. Das und die Bereitschaft Gewalt, wenn sie seinen Zielen diente, skrupellos anzuwenden, ließen das zarte Pflänzchen Solidarität und Menschlichkeit schnell verkümmern.

      Als Kahl und Fischlauf Freunde wurden, hätte er nicht einmal im Traum daran gedacht, Fischlauf könne ein Doppelleben führen, vielmehr hatte Kahl den Eindruck, er wäre auf dem besten Wege, sich zu ändern.

      Er war gewiss kein Waisenknabe, doch was er Fischlauf im Land vorlebte, schien ihm zu imponieren, und mit der Zeit drang das verschüttet Geglaubte doch nach oben.

      Den vielen Lesestoff, den Kahl im Laufe ihrer Freundschaft ihm verabreichte, eignete er sich, nicht nur aus Höflichkeit oder um ihm einen Gefallen zu tun, in hoher Geschwindigkeit an, nein, die Bücher, als hätte er sie lange vermisst und nun gefunden, bereiteten Fischlauf immer größeres Vergnügen, und das Verlangen nach mehr wurde unstillbar.

      Was hatte er damals alles nachzuholen, trotzdem blieb Zeit für das Neue. Die Literatur des anderen deutschen Landes, Böll, Grass, Lenz, Wellershoff und viele andere, las er aufmerksam und mit wachsendem Interesse, auch die seines eigenen Landes, Wolf, Fühmann, Wiens, Braun, Mickel, Plenzdorf, Biermann und Brasch, ließ er nicht aus. Sogar Kahls Lyrik und Prosa verschlang er, als hätte er nie etwas anderes getan.

      Plötzlich stand sie wieder vor ihm, die Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit. Der Einzug Milzbergers in das Gefängnis, die geräuschlose Schleuse, die ihn spurlos verschluckte, riefen in Kahl die alten Erinnerungen wach, die drohten, ihn zu verschlingen. Der Irrsinn zwischen seiner Entlassung aus dem Gefängnis und der Ausreise aus dem Land beherrschte die Gedanken. Schnell fuhr Kahl auf der Eckenheimer Landstraße in Richtung Innenstadt. In diesen Zustand rutsche ich nicht noch einmal ab! befahl er sich energisch. Nie wieder sollen sie Macht über mich haben, nie mehr sich der eisigen Ohnmacht erwehren müssen. Jetzt ich bin in diesem Land, und alles wird gut. Ach was! schüttelte er die bösen Gedanken ab. Vielleicht ist mein Freund Beiser inzwischen in der Kneipe, und wir können eine Partie Schach spielen.

      Nichts war von ihm zu sehen, als sich Moritz Kahl zu einigen Bekannten an den Tisch setzte.

      Niemand versuchte in seinem Zustand, mit ihm ein Gespräch zu beginnen, und so konnte er sich ungestört finsteren Grübeleien hingeben. Robin Fischlauf ist schließlich doch zum Spitzel geworden, obwohl er sich anfangs heftig wehrte. Immer war er mit einem blauen Auge davongekommen, aber diesmal sollte es anders werden.

      Er gab nach langem Bedenken sein Einverständnis, war es erst einmal gegeben, gab es kein Zurück mehr. Als es so weit war, zwickte ihn hin und wieder das Gewissen, aber jetzt war sein Trachten nur darauf gerichtet zu verhindern, dass je ein Außenstehender vom schäbigen Verrat erfuhr.

      Die Voraussetzungen waren günstig, lag doch die Vermutung nahe, dass seine Berichte für alle Zeiten im Schoß des Ministeriums sicher verwahrt blieben und sein Doppelleben sich einrichten lassen, dass die eine Welt nicht mit der anderen kollidierte. So abgesichert, gelang es Robin Fischlauf, trotz gelegentlicher Selbstvorwürfe, trefflich zu leben, sich sogar als das wahre Opfer zu fühlen, hatte er doch die Tätigkeit des Spitzels nicht freiwillig angenommen, sondern wurde durch mancherlei Art gezwungen, und die Furcht vor den möglichen Konsequenzen, lehnte er ihr Angebot ab, gab ihm das Recht, sein Gewissen ruhig zu halten. Außerdem, beschwichtigte er sich, würden seine Berichte weder Kahl, dem Freund, noch jemand anderem wirklich schaden, denn nur was sie sowieso schon wussten, wollte er preisgeben.

      Moritz Kahl schreckte hoch. „Eigentlich habe ich mit dir nicht mehr gerechnet.“ Gerlinde stellte ihm das Bier auf den Tisch. „Deine Augen sind wieder einmal hellgrün. Wenn sie diese Farbe annehmen, wirst du unberechenbar.“ Sie streichelte zärtlich seine Hand. „Umso schöner ist es, dass du jetzt bei mir bist und wiederrum auch nicht. Ohne all die anderen hier, wäre es mir lieber“, seufzte sie und nahm die nächste Bestellung auf.

      4

      Der blaue Kastenwagen mit der großen Aufschrift, Feuer-und Sicherheitssysteme, parkte vor dem schmucken Einfamilienhaus in der Aschaffenburger Vorortsiedlung, die sich vor allem durch gnadenlose Monotonie in Bauart und Gartengestaltung auszeichnete.

      Wolfi Wagner und Lothar Busse, in blauen Arbeitshosen und passenden Kitteln, entstiegen geschäftig dem Wagen. Busse griff sich sofort den Werkzeugkasten, Wolfi nahm aus dem Handschuhfach das Klemmbrett mit den Arbeitszetteln, auf denen das Logo ihrer Sicherheitsfirma prangte, bog gemeinsam mit seinem Chef vom sauber gefegten Bürgersteig auf den ordentlich gepflasterten Hausweg ab und klingelte gleich an der verglasten Tür.

      Wolfi plagten keine Skrupel, für ihn war es ein ganz normaler Arbeitstag, der sich nicht von den vorangegangenen unterscheiden sollte.

      Die Aufgaben waren auch heute klar verteilt. Wolfi übernahm den operativen Teil, Busse würde ihm die nötige Zeit dazu verschaffen.

      „Herr Lauth“, lächelte Wolfi verbindlich, als der Hausherr öffnete. „Wir haben gerade hier in der Gegend zu tun und wollten uns erkundigen, ob Sie Ihr Haus gegen Feuer und Diebstahl gesichert haben. Wir würden es uns gern mal anschauen und Ihnen unverbindlich ein Angebot machen. Bei Ihrem Nachbarn, Herrn Neumann, nebenan, waren wir letzten Monat, und der hat uns empfohlen, bei Ihnen vorbeizuschauen, weil er sich sicher sei, dass Sie an einem Feuermeldesystem Interesse hätten. Wenn es Ihnen jetzt nicht passt, können wir auch ein andermal wiederkommen, aber unsere Auftragsbücher sind zurzeit randvoll. Wir haben leider nur noch in der nächsten Woche einen Termin frei.“

      „Sie kommen nicht ungelegen, meine Herren“, sagte Herr Lauth freundlich. „Kommen Sie rein. Ich habe gerade gestern mit meinem Nachbarn über Sie gesprochen und bin sehr an Ihrem Feuermeldesystem interessiert, man hört ja in letzter Zeit so viele schreckliche Sachen über Rauchvergiftungen. Kommen Sie nur, ich habe Sie schon erwartet, meine Herren. Schauen Sie sich alles in Ruhe an.“

      Herr Lauth hatte, ohne es zu ahnen, den Weg für einen erfolgreichen Arbeitstag geebnet.

      „Das Beste wird sein, wenn Sie uns zuerst durch die Räumlichkeiten führen, damit wir uns einen genauen Überblick verschaffen können.“ Wolfi zückte erleichtert, mit professioneller Mine seinen Stift. „Herr Lauth, das ist doch richtig?“, fragte er und notierte auf dem