Dietmar Schubert

Mauerzeit - Traumzeit


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noch nach dem Meister, bevor sie ihren Kopf zu mir dreht.

      „Weißt du, ich habe kein Problem damit, mir meine Hände schmutzig zu machen und an einer Drehmaschine zu arbeiten. Was mich ärgert, dass das, was ich an den Vormittagen beim UTP erlebe und mir dann die Miera in Stabü erzählt, hinten und vorn nicht zusammenpasst. Entweder kann mir das oder will mir das keiner erklären, warum da Theorie und Praxis nicht übereinstimmen. Da ist mir Physik oder Chemie viel lieber.“

      „Weil es Experimente und Beweise gibt?“, frage ich sie.

      „Genau deshalb“, antwortet sie mir.

      „Am liebsten mache ich Experimente, wenn wir beide zusammen in einer Gruppe sind“, setzt sie ihren Satz fort. Ich bin verlegen. Silke macht mir einfach Komplimente und mir ist noch nie eines für sie eingefallen.

      „Du bist immer ganz exakt, bei dir muss das Ergebnis stimmen. Wenn nicht, suchst du nach einer Erklärung. Du erinnerst mich ... .“

      Hier stockt sie, ganz plötzlich, als würden ihr die Worte fehlen oder als wollte sie mir etwas nicht sagen wollen. Verdammt, damals am Waldsee hat sie den Satz auch so abgebrochen.

      „An wem oder was erinnere ich dich?“, frage ich sie. Ihr Gesicht verfinstert sich. Sie überlegt eine Weile, bevor die Traurigkeit wieder aus ihrem Gesicht verschwunden ist.

      „Du erinnerst mich an Wissenschaftler, die große Entdeckungen gemacht haben. Ich glaube, das sind auch so exakte Menschen wie du.“

      Das Teil in der Drehbank ist fertig. Silke beobachtet jeden meiner Handgriffe, bis ich die Maschine wieder einschalte. Sie springt auf und fängt an, zwischen den Kisten zu fegen.

      „Ich komme gleich wieder, der Meister ist im Anmarsch.“

      Mit gespielter Begeisterung häuft sie Metallspäne und Dreck zusammen. Kommentarlos zieht der Meister an ihr vorbei und verschwindet aus der Halle.

      „Hilfst du mir heute Nachmittag?“, fragt sie mich.

      „Heute Nachmittag, was war da?“, grüble ich. Silke rollt mit den Augen.

      „Holger, du hast ein Gedächtnis wie ein Kaffeesieb mit einem großen Loch“, wirft mir Silke vor, „wir haben uns doch erst gestern drüber unterhalten. Ich sage nur Waschhaus. Meine Eltern habe die Wäsche heute früh hingebracht und ich muss sie mangeln und abholen.“

      Das Wort Waschhaus aktiviert meine Erinnerungen. Ich habe Silke versprochen mit zukommen, alleine ist die Heißmangel schwer zu bedienen. In unserer Familie habe ich diesen Job an Peggy abgegeben, ich kann die Waschweiber im Waschhaus nicht ausstehen.

      „Kann ich das Teil auswechseln?“, unterbricht Silke meine Gedanken.

      „Okay, ich passe auf“, meine ich und trete einen Schritt von der Drehmaschine zurück. Sie lehnt den Besen gegen die Kisten und beginnt das fertige Teil auszubauen. Silke ist konzentriert. Auch wenn sie zum UTP immer ein verwaschenes, kariertes Hemd, eine ausgebleichte, zu kurze Arbeitshose anhat und ihre Haare unter einer Schirmmütze versteckt, sieht sie einfach gut aus. Ich könnte sie ewig so ansehen.

      „Fertig! Maschine einschalten?“, meint sie. Ich schrecke aus meinen Gedanken auf, schaue prüfend über das eingespannte Teil und finde keinen Fehler.

      „Klar, einschalten!“, fordere ich sie auf. Sie drückt auf den Startknopf und der Meißel hebt nach wenigen Augenblicken den ersten Span ab. Es wird ruhiger in der Halle. Nach und nach gehen die Maschinen aus. Die Frühstücksverpflegung für die Arbeiter rollt an. Silkes Teil ist fertig und sie legt es zu den anderen.

      „Aha, einen Haltebolzen habe ich hergestellt“, bemerkt sie, als sie die Laufkarte in der Kiste studiert. Wir müssen zum Frühstück in den Pausenraum und der liegt am anderen Ende der Halle. Ich bin in guter Stimmung, lege meinen Arm um Silkes Schulter und drücke sie an mich. Ein kleines Lächeln kommt als Dankeschön zurück.

      „Eh, Kleine, kannst du deinen Freund nicht mal wegschicken!“, ruft jemand aus der Warteschlange. Ich streiche über ihren Arm und ich möchte sie beschützen.

      „Gehst du wieder zu deiner Flamme Silke?“, fragt mich Peggy neugierig.

      „Ich entflamme dir gleich dein Hinterteil, wenn du frech wirst“, erwidere ich und schaue ernst in ihre Richtung.

      „Wann kommt’n deine Kirsche wieder mal mit zu dir. Ihre langen Haare fetzen.“

      „Deine kurzen Fransen kannst du voll stecken lassen“, provoziere ich sie.

      „Ich habe keine Fransen. Ich habe mich bloß heute früh nicht gründlich gekämmt.“

      Sie überlegt einen Moment.

      „Wie kann sich denn Silke hinsetzen? Da klemmt sie sich doch immer die Haare ein. Das ziept doch ganz doll.“

      Peggy lehnt an ihrer Zimmertür und schaukelt damit hin und her. Ihren Blicken ist nicht recht anzusehen, denkt sie über das Problem der langen Haare und des Hinsetzens nach oder heckt sie schon wieder eine neue, freche Frage aus.

      „Habt ihr euch schon mal richtig geküsst? Kann sie gut mit Zunge küssen?“

      Wo hat meine Schwester denn das schon wieder aufgeschnappt – Zungenkuss und so,

      „Schwesterlein, mache deine Hausaufgaben und frage nicht Dinge, für die du noch viel zu jung bist.“

      Das hat gesessen, denn eines kann Peggy nicht ausstehen, das Wort Schwesterlein.

      „Ich bin nicht dein Lästerschwein. Knutscht bloß nicht so viel rum, das gibt Knutschflecken und die kann man nicht abwaschen.“

      Knurrend und mit grimmigem Gesicht schließt sie die Tür zu ihrem Zimmer.

      Ich nehme meinen Schlüssel vom Schlüsselbrett, schaue noch mal zu Peggy ins Zimmer.

      „Tschüss Peggy! Schau nicht so verbiestert!“

      „Selber Biest!“, kommt von ihr zurück, ohne dass sie sich umdreht.

      Ein helles Ding-Dong ist zu hören und wenige Augenblicke später öffnet Silke die Wohnungstür.

      „Los, komm rein, wir haben noch etwas Zeit.“

      Sie umarmt mich und drückt die Wohnungstür zu. Wir stehen zwischen Schuhschrank, Spiegel und Kommode. Ich wühle in den langen Haaren, meine Finger suchen nach ihrem Ohr und streicheln über das Ohrläppchen. Silke schmiegt sich wie eine Katze an mich und der Kuss wird noch leidenschaftlicher.

      „Du bist gemein Holger, du weißt genau, wie du deinen Willen durchsetzen kannst“, sie schaut mich an, „aber mir gefällt es. Es ist wunderschön.“

      Aus Silkes Zimmer ist ein Titel von Manfred Mann zu hören. Ihr Zimmer sieht toll aus. Ich war erstaunt, als ich es vor einigen Monaten zum ersten Mal gesehen habe. Ich hatte ein Zimmer wie bei Rita erwartet – eine Horde Plüschtiere auf der Liege; Poster von der Gruppe Kreis, Bee Gees, Abba und Middle Of The Road, wenn es hoch kommt, von The Sweet und Möbel, die aus den Kinderjahren gerettet wurden.

      Silkes Zimmer sieht ganz anders aus – erwachsener eingerichtet. Die Poster kleben nicht mit ein paar durchsichtigen Klebestreifen oder Gänsehautband an der Wand, sondern sind gerahmt und exakt aufgehängt. Ein Poster ist mir gleich aufgefallen – Omega. Schulbücher und Hefter liegen auf dem Tisch und davor steht ein Stahlrohrstuhl. Die Grünpflanzen bekommen bestimmt jeden Tag Wasser, ich vergesse das manchmal. Die Leitermöbel sind die gleichen, wie bei mir, aber die Ordnung ist nicht mit meiner zu vergleichen - Kinderbücher, Jugendbücher, Fachbücher und – nicht zu vergessen „Weltall – Erde – Mensch“ – das Buch zur Jugendweihe. Die Schallplattensammlung ist nicht zu verachten, so viele habe ich nicht. Schallplattenspieler und ein Stern-Recorder stehen neben dieser.

      Wir sitzen über Eck auf Silkes Liege. Silkes Kopf liegt an meinem. Die beiden Teddys schauen uns mit gutmütigen Augen an. Einer lehnt lässig am Schrank. Die alte Wanduhr tickt neben dem kleinen Regal. Auf dem Regal liegt neben Sküs-Kosmetik eine Bernsteinkette. Ein runder Spiegel hängt