Wilfried Baumannn

Das letzte Schuljahr


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Student während des Praktikums kein großes Verständnis bei einer Mentorin gefunden. Sie erwartete in ihm schon den perfekten Lehrer und ärgerte sich, wenn er ihren Unterrichtsstil nicht kopierte. Die Auswertungen seiner Unterrichtsversuche waren dann auch dementsprechend. Er bekam Albträume. Ausgerechnet bei ihr sollte er im Fach Musik sein Staatsexamen absolvieren. Die Examensstunde war fast eine Katastrophe, und er rutschte gerade noch so durch die Prüfung. Damals war jede Unterrichtsstunde unbedingt mit einer die Schüler motivierenden Problemstellung zu beginnen. Müller hatte aber die Aufgabe, ein Lied zu behandeln, aus dem sich eine solche nur schwer ableiten ließ. Es war weder rhythmisch kompliziert, noch bot der Text weltbewegende Probleme. Müller stellte aber eine so dämliche „Problemfrage“, nach der die Schüler denken mussten, er hätte einen „Tick hinterm Pony“.

      Später musste er als gestandener Lehrer über seine ersten Schritte lachen. Eines nahm er sich jedoch vor, und deshalb hatte dieses Erlebnis auch sein Gutes: Niemals wollte er irgendeinem Studenten, der zu ihm gesandt wurde, den Mut zum Lehrerberuf nehmen, geschweige ihn schon als vollkommen ansehen.

      ***

      Müller drückte der jungen Frau herzlich die Hand und sagte ihr:

      „Ich freue mich, Sie an unserer Schule begrüßen zu können.“

      Da sie auch die Arbeit eines Klassenleiters kennen lernen sollte, lud er sie zur FDJ-Leitungssitzung am folgenden Tage und zur Elternaktivwahl ein.

      In der Leitungssitzung wurde zuerst darüber diskutiert, ob Regina noch weiter ihre Funktion als FDJ-Sekretär ausüben wollte. Sie sagte, dass sie einen Ausreiseantrag gestellt und auch kein Interesse mehr an dieser Funktion hat. Jeder verstand ihre Beweggründe, obwohl Müller es sehr bedauerte. Es gab in seiner Klasse keine gewissenhaftere und ehrlichere Schülerin.

      Gab es einen Ersatz für sie? Wer verstand es, die Leitung so gut zu führen, interessante Veranstaltungen und gesellschaftlich nützliche Einsätze zu organisieren oder sich für seine Mitschüler zu engagieren?

      Fähigkeiten zur Leitung hatte der Dicke, Dirk Amigo. Aber der wollte partout nicht in die FDJ-Leitung. Dafür beeinflusste er die Klasse lieber anderweitig.

      Jens Mespil wurde wegen seiner Armeemasche nicht sehr geachtet.

      Jens Schüttel sollte in der FDJ-Leitung seinen Platz behalten, dachte sich Müller und sprach es laut aus. Im Hinterkopf spielte er mit dem Gedanken, dem stillen, bescheidenen und begabten Jungen aus christlichem Elternhaus einen Besuch der Erweiterten Oberschule zu ermöglichen. Aber den Grund nannte er natürlich nicht, als er ihn empfahl.

      Auch sein naturwissenschaftliches Talent in der Klasse, der durch sein überlautes Sprechorgan manchen Lehrer zur Weißglut brachte, Frank Zahrich, sollte durch seine Tätigkeit in der Leitung die Möglichkeit erhalten, zur EOS zu kommen. Vielleicht gelang es durch Aufgaben, die er für die Klasse erfüllen sollte, ihn von seinen egoistischen Ambitionen abzubringen. Müller hatte an Franks Verhalten festgestellt, dass er deshalb oft unausgeglichen und provozierend reagierte, weil er im Unterricht einfach unterfordert war. Er begriff außerordentlich schnell und besaß das, was Müller bei anderen Schülern vermisste, nämlich Kreativität. Sein Egoismus zeigte sich in einer gewissen Rücksichtslosigkeit Mitschülern gegenüber, die nicht so intelligent waren wie er. Die Eltern arbeiteten als wissenschaftliche Mitarbeiter in der Akademie der Wissenschaften. Der Vater hatte als Parteiloser die Promotion erreicht. Die Mutter war schon seit Jahren die engagierte Elternaktivvorsitzende seiner Klasse und auch nicht Mitglied der Partei.

      Die anderen Jungen …? Wer kam da in Frage? Etwa Ronny Kowar? Der Vater war in der SED und von Anfang an Mitglied des Elternaktivs. Ronny war ein unmöglicher Junge. Müller kannte ihn schon seit der ersten Klasse, das heißt genauer von den Ferienspielen im Schulhort.

      Damals unternahm Müller mit der ihm zugeteilten Kindergruppe eine Waldwanderung. Auf dem Rückweg bekam Ronny plötzlich einen Bock und wollte einfach nicht mehr mit der Gruppe weiterlaufen. Das Mittagessen im Hort stand schon bereit, und die Kinder waren hungrig. Das störte Ronny nicht im Geringsten.

      Als Müller ihn an die Hand nahm und hinter sich herzog, schäumte Ronny vor Wut:

      „Das erzähle ich alles meinem Vater. Der wird Sie aber verkloppen!“

      Müller dachte nur amüsiert:

      „Ja, ja, die Wut des kleinen Mannes ...“

      Der Vater erschien natürlich nicht. Müller aber hatte für ein paar Tage Ruhe vor Ronnys Wutausbrüchen. Die damalige Klassenleiterin, die liebe Tammi, sagte zu ihm, als er sie über den Vorfall in Kenntnis setzte:

      „Ja, bei mir hat er sich schon einmal vor Wut auf dem Fußboden gewälzt, weil ihm etwas nicht passte. Das ist ein Fall für den Psychiater.“

      Als Müller die Klasse in ihrem 5. Schuljahr übernahm, konnte er erstaunt feststellen, dass Ronny außerordentlich belesen war. Besonders das Fach Geschichte hatte es ihm angetan.

      Einmal korrigierte er Müller sogar mit verblüffend detaillierten Kenntnissen, und er als Geschichtslehrer musste ihm Recht geben. Müller mochte solche kleinen Genies, von denen er sogar noch etwas lernen konnte. Ronny brachte ihm sogar die Literatur mit, aus der er sein Wissen geschöpft hatte.

      Doch dann geschah es, dass er während der großen Pause auf dem Schulhof wieder einen seiner unberechenbaren Wutanfälle bekam und einen Schüler mit Steinen bewarf, der ihn geärgert hatte. Alle, auch Müller, waren entsetzt.

      Mit viel Geduld gelang es aber, seine Aggressivität ein wenig abzublocken. Er war einer der Schüler, der Müller die meiste Mühe kostete. Sollte er, obwohl er einmal an einer Funktionärsschulung teilgenommen hatte, in der FDJ-Leitung eine Funktion ausüben? Nein! Ronny war unausgeglichen und unzuverlässig. Als Kassierer hatte er im Jahr zuvor vollkommen versagt.

      Die Mädchen seiner Klasse waren für eine Funktion sehr aufgeschlossen, so dass eine paritätische Zusammensetzung der FDJ-Leitung keine Schwierigkeiten bereitete.

      Die Sitzung ging nach zwei Stunden zu Ende.

      „Herr Müller, ich staune, mit welcher Verantwortung Ihre Schüler an die Fragen der Neuwahl der FDJ-Leitung heran gegangen sind“, kommentierte die Studentin ihre Eindrücke auf dem gemeinsamen Weg zur S-Bahn.

      „Das Schuljahr ist gut angelaufen“’, dachte sich Müller und war zufrieden.

      Zum Wochenende waren Müllers zu einer Gartenparty der Bekannten eingeladen worden, die ihm damals zu der Freundschaft mit dem tschechischen Journalisten Pavel verholfen hatte. Es war ein lauer Septembernachmittag, der zum Plaudern in freier Luft zwischen Büschen, grünem Rasen, Herbstblumen und den sich langsam bunt färbenden Blättern der Bäume einlud. Kaffee und Kuchen sorgten für eine familiäre Atmosphäre.

      Bei Luise war es immer interessant, weil der Kreis, mit dem sie verkehrte, aus Schriftstellern, Theaterleuten und anderen Künstlern bestand. Das war eine andere Welt. Hier sprachen sie nicht DDR-üblich hinter vorgehaltener Hand, sondern die Probleme wurden offen auf den Tisch gelegt.

      Neben Horst hatte der Leiter eines kleinen Berliner Amateurtheaters Platz genommen und ihn in ein interessantes Gespräch verwickelt. Er erzählte von den Stücken, die sie spielten. Diese waren manchmal so brisant, dass oft die Furcht bestand, sie nicht mehr aufführen zu können. Manchmal entstanden sie aus Diskussionen mit den jugendlichen Darstellern, die das Theater als einzigen Ort ansahen, wo sie ihren DDR-Frust loswerden konnten.

      So griff ein Stück den Fall einer Darstellerin auf, deren Eltern nach außen hin gute Parteigenossen waren. In ihrer Ehe aber stimmte gar nichts. Den Kindern - sie hatte noch einen Bruder - erlaubten sie nicht, die Fernsehprogramme des Westens anzuschauen. Lagen die Kinder jedoch im Bett, sorgte ein kleiner Knopfdruck für die Republikflucht im Wohnzimmer. Die Doppelzüngigkeit ihrer Eltern wurmte das Mädchen. Als dann auch noch ihr Vater, Parteisekretär in einem Volkseigenen Betrieb (VEB), mit einer ihm unterstellten Genossin fremdging und sich daraufhin die Eltern scheiden ließen, brach für sie eine Welt zusammen.

      Diesen situativen Augenblick spielten die Jugendlichen in Form einer Theateretüde