Wilfried Baumannn

Das letzte Schuljahr


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Die Meinungen der Schüler sollten genauestens aufgeschrieben werden? Und wie war das mit der Gefährdetenkartei?

      Nein, Horst Müller, du wirst nicht zum - mit Verlaub - Anscheißer deiner dir anvertrauten Kinder. Auf diese Kartei wird er nur den Namen von Dörte Seefeld schreiben. Sie ist ein Heimkind, vom Elternhaus vernachlässigt. Um sie musste er sich sozial und bei Bedarf mit Unterstützung der Jugendhilfe-Heimerziehung kümmern.

      Auf keinen Fall wollte er aber seinen Jens Schüttel aufschreiben, dessen Eltern aufrechte Christen waren. Er wollte doch diesem Jungen nicht den Besuch der Erweiterten Oberschule verbauen, nur weil er nicht die offizielle Parteiideologie vertrat, aber mit seinen Klassenkameraden oft feinfühliger als viele Genossenkinder umging.

      Ihn ärgerte es schon lange, besonders aber seit der Geschichte mit Kathrin Paulin, dass die politisch-ideologische Einstellung für die Delegierung zur EOS eine wichtige Rolle spielte.

      Wann hatte die DDR den letzten Nobelpreisträger, oder wurde überhaupt je ein DDR-Wissenschaftler mit dieser hohen Auszeichnung gewürdigt? In den Schlüsselpositionen und Leitungen saß die Partei. Was ökonomischer und wissenschaftlicher Fortschritt war, bestimmte die Partei, und die wiederum war an die Beschlüsse des vorangegangenen Parteitages der SED gebunden. Das war Gesetz und verbindlich im Lande. Dem ordneten sich auch die Blockparteien, die Betriebe, Akademien, Schulen, kurz das gesamte gesellschaftliche Leben unter.

      Jeder, vom Kindergartenkind bis zum Rentner, wusste, was er zu tun und zu lassen hatte. Für jeden Bereich gab es Direktiven. Weil jeder Bürger um seine Aufgaben wusste, fühlte er sich, wenn er angepasst war, in dem System geborgen wie ein Kind bei seinen Eltern. Die Partei bestimmte seinen Lebensweg, auch wenn er nicht Genosse war. Da er gewöhnlich keine Möglichkeit hatte, in NSW-Ländern (NSW - Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet, d.h.: alle Länder, die nicht dem sozialistischem Blocksystem angehörten) Vergleiche anzustellen, glaubte der Durchschnittsbürger trotz häufigen Ärgers über fehlende Konsumgüter letztendlich an den Sieg des Sozialismus. Stolz wurde er Aktivist der sozialistischen Arbeit, erhielt als Lehrer für jedes vollendete Dienstjahrzehnt die Pestalozzimedaille zuerst in Bronze, dann in Silber und zuletzt in Gold.

      Müller besaß die in Bronze und in Silber. Eine kleine Geldprämie hing auch noch daran, Applaus der Kollegen und meist ein Strauß roter Nelken.

      Zum 30. Jahrestag der Gründung der DDR hatten sie ihn sogar zum Aktivisten geschlagen. Krokus hatte ihm die Urkunde überreicht, der Physik- und Mathematiklehrer und damalige stellvertretende Direktor.

      Müller wunderte sich, dass dieser Kollege den Posten als Parteiloser erhalten hatte. Gerade Krokus nahm beim Parteilehrjahr, das jeder Kollege, ob Genosse oder nicht, zu besuchen hatte, kein Blatt vor den Mund. Es war köstlich zu beobachten, wie die Parteireferenten ins Schwitzen gerieten, wenn Krokus mit Zahlen und Fakten über die wirtschaftliche Lage jonglierte.

      Woher hatte er nur immer diese Informationen? Oder war das Ganze nur ein großer Bluff?

      Auf jeden Fall war seine Anwesenheit immer die Würze des Parteilehrjahres.

      Die Richtlinie der Partei erhielten die Schüler durch ihre Kinder- und Jugendorganisation. Am 1. September wurde des Weltfriedenstages gedacht, der mit dem obligatorischen Appell und einer Politinformation eingeleitet wurde. Dann folgten im gleichen Monat die Wahlen für die Pionier- und FDJ-Leitungen der einzelnen Klassen und dann für das Klassenelternaktiv (KEA). Mit den Kindern musste ein Kampfprogramm nach dem Pionier- oder FDJ-Auftrag erarbeitet werden. Die Erwachsenen richteten sich nach dem Plan des KEA.

      Im September wurde auch der Opfer des Faschismus gedacht. An der Demonstration zur Würdigung dieses Tages nahm Müller regelmäßig teil. Er wollte die Schrecken des Krieges nicht noch einmal miterleben.

      Zum Jahrestag der Namensgebung der Schule mussten wieder Lieder einstudiert werden. Die Schule trug den Namen eines Antifaschisten, der als kommunistischer Widerstandskämpfer in Plötzensee hingerichtet worden war. Wo aber lag Plötzensee? In aufopferungsvoller Arbeit, manchmal bis spät in die Nacht hinein, hatte der Genosse Kurt Mofang in seiner Werkstatt die Buchstaben des Namens geschmiedet und über dem Haupteingang der Schule angebracht.

      Für das Pfingsttreffen der FDJ in Berlin sollte jede Klasse mindestens 50.- Mark sammeln und sich auch schon jetzt auf den 40. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik vorbereiten.

      Es gab laufend Gedenktage und Anlässe, welche die Leute auf Trab hielten.

      Müller nahm sich vor, im Jahre 1992 auf jeden Fall mit seinen von ihm dann aktuell unterrichteten Schülern den 1000. Geburtstag des Guido von Arezzo zu begehen, des Lehrers einer italienischen Klosterschule, der durch die von ihm entwickelte Methode des Blattsingens die heute übliche Notenschrift erfunden hatte.

      Schon aus Opposition reizte ihn so eine Gedenkfeier, weil für die Parteileute - den Eindruck entnahm er jedenfalls ihren Äußerungen - Christen oft Personen mit beschränktem Horizont waren. Wer konnte angesichts der wissenschaftlichen Lehren des Marxismus/Leninismus noch an so einen Quatsch glauben? Die Partei hatte eben immer Recht, auch wenn sie nicht Recht hatte.

      Das machte es vielen Menschen einfach, nicht weiter nachzudenken, weil die Partei für sie dachte.

      Ohne religiöses Zeremoniell schien sie aber nicht auszukommen. Kinder erhielten ihren Namen in einer feierlichen Veranstaltung. Sie wurden Erwachsene durch die Jugendweihe in der 8. Klasse. Dafür wurden im Schuljahr mit den Teilnehmern interessante Veranstaltungen durchgeführt. Sie besuchten die Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen bei Oranienburg, machten Exkursionen zu Großbauten des Sozialismus, oder was der noch gnädigerweise aus den Zeiten des Kapitalismus erhalten hatte, wie Krupps Schiffshebewerk Niederfinow, besichtigten Volkseigene Betriebe und bewunderten die CAD/CAM-Anlage, die nach den Worten des Betriebsdirektors gerade nicht arbeitete, weil das Rohmaterial fehlte. Dafür sahen sie aber die Maschinen aus den 30er Jahren, auf denen noch die Aufschrift AEG gut zu lesen war, in treuer Zuverlässigkeit ihre Arbeit verrichten.

      Nach dem Besuch in einem Forschungsbetrieb, mit modernsten Produktionsanlagen, hatte es Müller besonders schwer, die Schüler von den Vorzügen des Sozialismus zu überzeugen, weil er es einfach nicht konnte.

      Schon als sie im Klubraum des Kombinates saßen, meckerte die Direktorin des Werkes, weil die Schüler nicht in FDJ-Kleidung erschienen waren. Dann pries sie die modernen Produkte des Betriebes, die Weltniveau besäßen. Zuletzt schwärmte sie von der neuen Farbspritzanlage, die sie aus der Bundesrepublik bezogen hatten. Sie wäre vollautomatisch und schütze die Gesundheit der Werktätigen, wie sie sich ausdrückte. Vor der Farbspritzanlage angekommen, konnten sie die Vorteile mit eigenen Augen betrachten. Ein Arbeiter besprühte ohne Schutzmaske das hergestellte Produkt mit Farbe. Die Automatik funktionierte irgendwie nicht.

      Bei der Jugendweihefeier war dann die Welt wieder in Ordnung. Festlich gekleidet schritten die jungen Damen und Herren zum Klange feierlicher Musik in den großen Saal.

      Alle Erwachsenen, auch die Lehrer, hatten sich ihnen zu Ehren von den Plätzen erhoben. Ein würdiges Kulturprogramm erhöhte den feierlichen Eindruck.

      Der Festredner sang das Lob des Sozialismus und des später ganz gewiss folgenden Kommunismus, den er ja leider nicht mehr erleben könne, da er schon zu alt dafür sei.

      „Aber ihr, meine lieben Freunde, seid dazu berufen, diese neue Gesellschaftsordnung aufzubauen und zu gestalten.“

      Dann kam das Gelöbnis. Durch das Vorangegangene richtig eingestimmt, gelobten sie, alles für den Aufbau des Sozialismus zu tun, der Deutschen Demokratischen Republik treu zu sein, Freundschaft mit der Sowjetunion und den mit ihr brüderlich verbundenen Ländern der sozialistischen Staatengemeinschaft zu pflegen und so weiter.

      Der Höhepunkt des Festaktes folgte in der feierlichen Aufrufung der Namen. Jeder erhielt eine Urkunde und ein Buch, das dem Inhalt der Jugendstunden entsprach. Thälmannpioniere mit roten Halstüchern überreichten Rosen. Nun waren sie in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen worden und verließen in feierlicher Prozession den Saal mit der Untermalung festlicher Musik.

      Außer einer Schülerin