Wilfried Baumannn

Das letzte Schuljahr


Скачать книгу

Termin völlig. Er war nervlich am Boden. Der Verzicht auf den Erholungsurlaub und das ganze Drum und Dran um den Tod seines Schwiegervaters hätten eine Krankschreibung begründet. Horst Müller wollte aber nicht fehlen. Er wollte nicht andere Kollegen mit Überstunden in seinen Fächern überlasten. Außerdem wusste er, dass er trotz methodischer Hinweise und Themenangaben für den Vertretungslehrer den Stoff erfahrungsgemäß trotzdem nacharbeiten musste.

      Die Chefin setzte ihm ständig zu. Ausgerechnet jetzt musste sich nun auch noch die Fachberaterin anmelden und wollte bei ihm vierzehn Tage lang hospitieren. Er dachte: Jetzt läuft nichts mehr bei mir. Bei der FDJ-Leitungswahl wollte die Genossin Direktor Sanam unbedingt dabei sein. Die Wahl wurde eine Katastrophe. Nichts klappte. Müller selbst empfand die ganze Geschichte als Farce.

      Es gab keine Politinformation, keine politische Diskussion, sondern nur das Gerangel um die Funktionärsposten. Die Mädchen seiner Klasse waren hier eifriger, die Jungen reservierter. Schließlich hatte sich die neue FDJ-Leitung der Klasse etabliert, die Hände wurden zur Abstimmung gehoben. Fertig.

      Fertig gemacht wurde aber Müller von der Direktorin. Er sollte zur GOL-Wahl (Wahl der Grundorganisationsleitung der FDJ) erscheinen, damit er sich darüber Wissen aneignete, wie eine Wahlversammlung richtig verlaufen musste.

      An diesem Tage aber feierte seine Mutter in Potsdam ihren 70. Geburtstag, zu dem viele Verwandte und Bekannte von weither kamen, die er schon lange nicht mehr gesehen hatte und auch so bald nicht wiedertreffen würde.

      Er hatte nur zwei Stunden Unterricht und wollte gleich zur Mutter fahren. Weil er es aber versäumt hatte, sich vorher zu entschuldigen, wurde er gezwungen, Stunden in der Schule zu verbringen, da ihm die Chefin die Abwesenheit bei dieser „überaus wichtigen“ FDJ-Veranstaltung nicht gestatten wollte. Erregt erwiderte er:

      „Was geschieht, wenn ich trotzdem gehe?“

      Er verließ die Versammlung nach einer halben Stunde, um noch den Sputnik, so nannten die Berliner den Zug, der wegen der Mauer im Süden rund um Westberlin nach Potsdam fuhr, zu erreichen. Es war nachmittags um 16.30 Uhr.

      Am nächsten Tag wurde er auf der Treppe vor Schülern gemaßregelt und ihm lauthals ein Disziplinarverfahren angedroht.

      „Warum lässt du dich nicht krankschreiben?“, fragte ihn Kopf schüttelnd Frau Mofang.

      „Ich will doch die Kollegen nicht belasten. Wenn ich nur unterrichten könnte. Aber dieses sinnlose Drumherum, das mir seit dem Tod von Schwiegervater immer hirnrissiger vorkommt …“

      Nun kam auch noch das Ereignis. Die Ehrenkompanie der Bundeswehr spielte Honeckers Delegation in Bonn die Nationalhymne der DDR vor, die noch nicht einmal mehr gesungen werden durfte, weil der Text von einem geeinten Deutschland sprach. Die Genossen wurden nicht müde, ihre Genugtuung dazu zu äußern. Das musste in allen Klassen ganz groß herausgehoben werden. Die Behandlung des Kommuniqués zu diesem Besuch wurde zum Pflichtstoff in jeder Klasse erklärt. Um die ganze Sache auf die Spitze zu treiben, sollten die Klassenleiter in einer Dienstberatung vom Echo ihrer Klasse auf den Honeckerbesuch berichten.

      Müllers Klasse stöhnte, als er das Thema ansprechen wollte:

      „Herr Müller, wir haben im Deutschunterricht so viel darüber gesprochen, dass wir die Nase voll haben.“

      Ihn interessierte der Honeckerbesuch in der Bundesrepublik auch herzlich wenig. Der fuhr in der Welt umher, aber den Bewohnern seines Landes machte er Schwierigkeiten, wenn sie in andere Länder reisen wollten, in NSW-Staaten, in das Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet, wie sie das im Parteijargon nannten.

      „Das kann ich verstehen“, sagte er und legte das geforderte Thema ad acta. Die Deutschlehrerin seiner Klasse hieß aber Frau Sanam. So war der Konflikt schon vorprogrammiert. Ausgerechnet er sollte nun auch noch über das Echo in seiner Klasse sprechen und konnte es natürlich nicht.

      Wieder wurde er von ihr zur Rede gestellt in einem Ton, der das Herz zum Frieren bringen konnte. Er wiederholte als Entschuldigung die Worte seiner Schüler.

      Er nannte aber bewusst keine Namen.

      Nun dachte die Chefin, genug gegen ihn in der Hand zu haben, um ihn von der Schule zu entfernen. Bedauerlich für sie, dass es noch die Hürde der Gewerkschaft gab. Müller musste vor die SGL des FDGB (Schulgewerkschaftsleitung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, der einzig zugelassenen Gewerkschaft der DDR). Er erzählte dort, wer weiß zum wievielten Male, dass er den Tod seines Schwiegervaters nicht verwinden konnte, und er bisher zu keiner inneren Sammlung gefunden hatte. Sein Arzt wollte ihn schon krankschreiben. Er aber mochte auf keinen Fall seine Kollegen mit Vertretungsstunden belasten.

      Damit schien die Angelegenheit erledigt zu sein, denn die Kollegen der Gewerkschaft zeigten Verständnis für diese Situation. Genossin Sanam war höchst unzufrieden, besonders mit der Jutta Mofang. Anstatt Müller fertig zu machen, stellte sie sich noch auf dessen Seite? Trotzdem sollte der Bericht über Müller in die Abteilung Volksbildung gehen. Dort konnte der Schulrat dann das verzerrte Bild über Müller zur Kenntnis nehmen:

      „Im August informierte mich Kollege Müller, dass sein Schwiegervater schwer erkrankte“ … „Seinen Klassenleiterplan stellte Müller erst nach mehrmaliger Aufforderung fertig. In Vorbereitung der FDJ-Wahlen fand in seiner Klasse keine Leitungssitzung statt. Die Wahl entsprach in keinster Weise der Wahlordnung. Umso wichtiger war es, dass Kollege Müller der Einladung der SGL (Schulinterne Abkürzung für die Schulgruppenleitung der FDJ) zur Wahl folgte, um sich Sachkenntnis über Ablauf einer Wahl anzueignen …“

      Müller hatte nicht zum ersten Mal eine Klasse. Dies war seine vierte in 23 Dienstjahren. Das wussten auch die Mitarbeiter in der Abteilung Volksbildung. Aber ein Satz in diesem Antrag auf ein Disziplinarverfahren ließ sie aufmerken:

      „Am 14.10.1987 äußerte Kollege Müller, die Schüler hätten im Deutschunterricht schon die Nase voll vom Honeckerbesuch, da wollte er nicht auch noch damit anfangen (im Unterricht wurde das Kommuniqué behandelt = Aussagen der Schüler).“

      Der Schulrat erkundigte sich, wer in Müllers Klasse Deutsch unterrichtet und legte nach der Auskunft das Schriftstück zu den Akten.

      Müller rettete nur eine Laryngitis vor dem drohenden Nervenzusammenbruch. Er verlor die Stimme, blieb über zehn Tage zu Hause und fand sein Selbstvertrauen wieder. Der Direktorin ging er ab diesem Zeitpunkt aus dem Wege, sobald er sie sah. So hatte er das vorangegangene Schuljahr überstanden.

      ***

      Sie sang noch immer das Lob des Sozialismus. Wann ist dieser PR (Pädagogischer Rat – eine Art Konferenz, in der wichtige Fragen des Schulbetriebes besprochen wurden) nur endlich zu Ende? Müller wollte in seinem Raum noch etwas in Ordnung bringen.

      Die Direktorin, Frau Sanam, beendete ihre Seiten langen Ausführungen und zeigte all ihren Lehrern einen grünlichen Hefter.

      „Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen die politische Arbeit in unseren Klassen verbessern. Deshalb wird jetzt regelmäßig im Fach des Klassenleiters dieser Hefter zu finden sein. Hier tragen Sie ein, über welche aktuellen Themen Sie mit der Klasse gesprochen haben. Erledigen Sie diese Aufgabe gewissenhaft, und schreiben Sie alle Äußerungen der Schüler auf, damit man sehen kann, wie in der Klasse schwerpunktmäßig an der politisch-ideologischen Haltung weiter gearbeitet werden muss.

      Denken Sie an die Grundwahrheiten des Sozialismus, die den Schülern zu vermitteln sind. Sie sind ja im Schuljahresarbeitsplan der Schule ausgewiesen.

      Eine weitere Aufgabe der Klassenleiter besteht darin, für ihre Klasse eine Gefährdetenkartei zu erstellen. In ihr werden leistungsschwache, asoziale, in ihrer ideologischen Haltung labile und religiös gebundene Schüler erfasst. Kollegen, es geht um die optimale Entwicklung eines jeden Schülers unserer Schule. Optimal entwickelt kann er aber nur werden, wenn die ganze Persönlichkeit des Schülers und seine Lebensumwelt bekannt sind.

      In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen ein erfolgreiches Schuljahr 1988/89.“

      Die Kollegen klatschten Beifall. Müller und einige wenige