Wilfried Baumannn

Das letzte Schuljahr


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Bindungen mit einem Patenbetrieb. Es kam nicht selten vor, dass dieser Betrieb bevorzugt Lehrlinge ausbildete, die ihre Prüfungen an der Patenschule abgeschlossen hatten. Die Patenbrigade, die eine Klasse betreute, musste aber nicht unbedingt aus dem Patenbetrieb kommen, sondern konnte auch von den Klasseneltern vermittelt werden.

      *PA: Produktive Arbeit der Schüler als Unterrichtsfach in der Lehrwerkstätte eines Volkseigenen Betriebes (VEB) - eine Weiterführung des Werkunterrichts der Unterstufe

       ESP: Einführung in die sozialistische Produktion, eine Art Betriebswirtschaftslehre, wurde auch meist im VEB unterrichtet.

       Ideologisches Ziel war die Verbindung der Schüler mit den Werktätigen, der Arbeiterklasse und damit auch der SED, die sich gerne Partei der Arbeiterklasse nannte.

       Er war auch verbunden mit theoretischen Unterweisungen für die folgenden Arbeiten im PA-Unterricht (z.B. Technisches Zeichnen usw.)

       PA und ESP wurden in der Schulplanung mit der Abkürzung UTP zusammengefasst, d.h. Unterrichtstag in der Produktion.

       Die dort vermittelten theoretischen und praktischen handwerklichen Fähigkeiten, z.B. Feilen, Gewindeschneiden, Bohren, Entwerfen von elektrischen Schaltkreisen usw. waren für die Schüler durchaus nützlich im weiteren Leben nach der Schulzeit.

      Fahnenappell und Schuljahresbeginn

      Der 1. September des Jahres 1988 war ein Donnerstag.

      Das Schuljahr begann mit dem üblichen Appell zum Weltfriedenstag, da am 1.9.1939 der 2. Weltkrieg begonnen hatte.

      Die FDJler trugen ihre Verbandskleidung, das blaue Hemd, die Jungpioniere das weiße Hemd mit blauem und die Thälmannpioniere mit rotem Halstuch.

      Kinder und Schüler, die vergessen hatten ihre Verbandskleidung anzulegen, wurden von den Klassenlehrern zur Rechenschaft gezogen. Auch Müller tat es. So war man es halt gewohnt, denn wer wollte schon Ärger mit dem Direktor bekommen und der wieder nicht mit den Vertretern der Abteilung Volksbildung und den Genosseneltern.

      Kurt Mofang hatte die Beschallungsanlage in Ordnung gebracht. Über den Schulhof klang lustige Marschmusik von einer Schallkonserve, die das Wachregiment der Schule geschenkt hatte. Die Mikrofone waren geschärft und gaben jeden Ton wieder.

      Rechts und links neben der Schule warteten die Schüler und Lehrer auf ihre Auftrittsmusik, um sich dann im latschigen Ungleichtrott zum Appellplatz zu begeben. Dort besaß jede Klasse ihr zuständiges Karree.

      Das musste aber von ihr zum Schuljahresbeginn erneut ausfindig gemacht werden, da sie ja wieder um eine Stufe höher gerückt war.

      Als die Fanfare rief, setzte sich auch Müllers Klasse mit den anderen in Gang. Die Schüler schnatterten über ihre letzten Ferienerlebnisse und äußerten ihren Unmut, dass die blöde Penne wieder begann. Selbst auf dem „heiligen“ Appellplatz wollten sie nicht zur Ruhe kommen, so dass Müller eingreifen musste, stimuliert von dem strafenden Blick der Direktorin, die zu ihm von der Eingangstreppe herüber zu blicken schien.

      Wie Müller diese Appelle mit ihrem ganzen militärischen Gehabe hasste!

      In der Zeit hätte er schon den Stundenplan diktieren, die Buchfrage erledigen, über wichtige Fragen des kommenden 10. Schuljahres und die damit verbundenen Probleme in einer Abschlussklasse sprechen können.

      Die Pionierleiterin brüllte mit ihrer hellen Kommandostimme:

      „Pioniere, Schüler und FDJler! Achtung! Zum Einmarsch der Fahnendelegation die Augen rechts!“

      Die Fahnen wurden im Gänsemarsch von der dafür auserwählten Kindergruppe feierlich herbei getragen und nach dem Kommando „Heißt Flagge!“ am Mast hochgezogen.

      „Pioniere! Achtung! Stillgestanden! Ich begrüße euch mit dem Pioniergruß: Für Frieden und Sozialismus seid bereit!“

      Hier bei den Kleinen zeigte sich noch etwas Begeisterung bei der Antwort:

      „Immer bereit!“

      Dabei stachen sie sich mit dem ausgestreckten Daumen in die Haare und zeigten die Handinnenfläche dem Appellabnahmegremium auf der breiten Eingangstreppe der Neubauschule.

      „FDJler! Achtung! Stillgestanden! Ich begrüße euch mit dem Gruß der Freien Deutschen Jugend: Freundschaft!“

      Ein vielstimmiges Echo, mal kurz oder absichtlich lang gezogen, untermalt von den tiefen nachpuberalen Tönen der Jungen der oberen Klassen, folgte:

      „F-F-rreundschaaaaftttt!“

      Darauf folgten dann immer das unvermeidliche Schülergelächter und die grimmigen Blicke der nach Ordnung heischenden Pädagogen.

      „Ich bitte um die Meldung der Gruppenratsvorsitzenden und der FDJ-Sekretäre!“

      Die gewählten Funktionäre eilten nach vorne, um die Anzahl der zum Appell erschienenen Mitschüler ihrer Klasse zu melden.

      „Pioniere und FDJler! Achtung! Stillgestanden! Zur Meldung an den Genossen Direktor die Augen geradeaus! --- Genossin Direktor! Ich melde, 721 Schüler der A.-P.-Oberschule sind zum Appell anlässlich des Weltfriedenstages und des Schuljahresbeginns angetreten!“

      Genossin Sanam trat ans Mikrofon:

      „Danke! Damit erkläre ich den Appell für eröffnet!“

      Nun kam Tammis Auftritt. Tammi war Musik- und Klassenlehrerin in der 3a. Ihren Kindern im Pionierdress sah man die Aufregung an. Unter ihrer Akkordeonbegleitung sangen sie „Wie und wann, wie und wann geht die Arbeit gut voran?“ und „Fröhlich sein und singen, stolz das blaue Halstuch tragen.“

      Dafür, dass die Kinder während der Ferien keine Gelegenheit hatten, gemeinsam zu üben, singen sie recht gut, sagte sich Müller. Tammi freute sich, als er ihr das später mitteilte, denn die Direktorin würdigte diese Leistung mit keinem Wort. Der Applaus war mäßig, vielleicht auch deshalb, weil der Straßenlärm von der Kreuzung oft die Deutlichkeit des Gesanges verschluckte. Einige Rezitationen sollten die positive Einstimmung in das neue Schuljahr heben. Ein weiteres Lied beendete den kulturellen Teil.

      Die Minuten der Direktorin folgten nun. Zuerst kam die „Rotlichtbestrahlung“ in Form des Lobes der friedlichen Außenpolitik der UdSSR, der DDR und der sozialistischen Bruderstaaten. Sie nannte konkrete Ereignisse, die während der Ferien in der internationalen Szene geschehen waren und Gegenstand der Politinformation in der ersten Unterrichtsstunde sein sollten. Müller war bei seinen Urlaubserlebnissen in Rumänien.

      Dann sprach sie über die schulischen Aufgaben des kommenden Schuljahres 1988/89 und ermahnte die Schüler zu fleißigem Lernen, da das den Sozialismus stärken würde, zumal auch die DDR im nächsten Jahr ihren 40. Geburtstag feiern würde.

      Zuletzt kam wieder die helle Stimme der Pionierleiterin:

      „Pioniere und FDJler! Stillgestanden! Wir beenden unseren Appell mit dem Pioniergruß: Für Frieden und Sozialismus seid bereit!“

      „Immer bereit!“

      „Und dem Gruß der FDJ: Freundschaft!“

      „F-F-rreundschaaaafttt!“

      „Ich bitte die Klassenleiter, ihre Klassen zu übernehmen.“

      Der Appell war vorüber. Endlich!!!

      Müller ging mit seiner Klasse in das Schulgebäude und schloss den Klassenraum auf. Da waren sie also wieder, seine Lieben. Es fehlte niemand. Sie standen an ihren Plätzen. Regina, die FDJ-Sekretärin meldete in strammer Haltung:

      „FDJler stillgestanden! Herr Müller, ich melde, die Schüler der Klasse 10b zum Unterricht bereit! Es fehlt keiner!“

      „Danke, nehmt Platz!“ antwortete Müller, den das Zeremoniell nervte. Aber es war vom Pädagogischen Rat (PR) in Abstimmung