Monika Kunze

Harlekin im Regen


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er fragte, was sie denn beruflich mache, erzählte sie ihm, dass sie als Übersetzerin arbeite. Freiberuflich.

      Verheiratet? Kinder? Nichts von alledem, Gott bewahre! Wie alt?

      „Nun, eigentlich fragt man eine Dame so etwas nicht“, wies sie ihn nach seiner letzten Frage scherzhaft zurecht, „also werde ich es Ihnen auch nicht verraten. Aber Sie als Mann könnten mir ja …“

      „Ich bin 33 …“ entgegnete er, noch ehe sie ihre Frage zu Ende gesprochen hatte.

      Nach etwa einer halben Stunde wussten sie fast alles voneinander. Sie war ihrem Traumprinzen noch nicht begegnet. Er hatte gerade eine unerfreuliche Beziehung beendet, arbeite als Filialleiter bei einer großen Versicherungsgesellschaft. Gern würde er ihr sein Reich zeigen.

      Ja, und im nächsten Moment würde er sagen, dass er das Gefühl hätte, Lea sei sein Schicksal, seine Traumfrau. Doch das sagte er nicht.

      Stattdessen fragte er sie nach ihrer privaten Telefonnummer.

      Oh Gott! Ein heftiger Schreck fuhr ihr in die Glieder.

      Das war nicht abgemacht, das war gegen die Regeln. Er musste ein Phantom bleiben, sie ein Traum.

      Aber was das anging, hatte sie wohl nicht mit seiner Hartnäckigkeit gerechnet. Schließlich gab sie nach und nannte ihm ihre Festnetznummer, die ja sowieso offenbar noch immer gestört war.

      Jetzt machte sich ihr Magen mit lautem Knurren bemerkbar.

      Sie verabschiedete sich mit dem Hinweis, dass sie erst einmal frühstücken wolle.

      Kaum hatte sie den letzten Bissen von ihrem Croissant hinuntergeschluckt, ihre heiße Schokolade bis auf den letzten Schluck ausgetrunken, klingelte das Telefon. Wieso denn das? Kamen jetzt doch wieder Anrufe bei ihr an? Sie räusperte sich, bevor sie abnahm.

      Er ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen und flehte: „Bitte Lea, wir müssen uns treffen, mir ist in den letzten Minuten klar geworden, dass ich Sie unbedingt kennen lernen muss, ach, Lea!“

      Seine Stimme klang richtig beschwörend. Es schien ihm ernst zu sein. Aber kennen lernen? Wie stellte er sich das vor?

      Das ging natürlich gar nicht. Das durfte niemals geschehen!

      Sollte sie sich hier mit ihm die Medizin auf dem Nachttisch anschauen oder den wippenden Vogel auf der Douglasie vor ihrem Fenster?

      „Nein, Roland, das geht auf gar keinen Fall, beim besten Willen nicht…“

      Sie suchte und fand Tausende von Ausflüchten, warum sie sich nicht sehen könnten. Bis sie schließlich auflegte, dann den Hörer wieder abnahm und sicherheitshalber auch noch den Stecker zog.

      Diese Geschichte schien ihr über den Kopf zu wachsen. Völlig erschöpft und müde ließ sie sich in die Kissen sinken.

      Als sie die Augen wieder öffnete, wusste sie gar nicht gleich, wo sie war, dann sah sie aber den Vogel auf der Douglasie. Der Anblick dieses kleinen, knopfäugigen Gesellen tat ihr gut. Und als ein vertrauter Duft nach Bratkartoffeln aus der Küche bis zu ihrer Nase gefunden hatte, war sie vollends beruhigt. Sie hörte, wie Mutter und Schwester nebenan rumorten und leise miteinander sprachen. Hier konnte ihr nichts passieren. Hier war sie geborgen.

      Plötzlich klingelte es.

      Schon wollte sie automatisch zum Hörer greifen, aber es war nicht das Telefon, es hatte an der Tür geschellt.

      Ein kühler Luftzug, der der Gardine einen kleinen Bauch verpasste, verriet, dass jemand gekommen war.

      Anscheinend hatte ihre Schwester Susi wieder einmal Besuch.

      Lea drehte sich auf die andere Seite und schloss die Augen.

      *

      Ein Mann, etwa Mitte fünfzig, schaute erstaunt auf das junge Mädchen, das ihm die Tür geöffnet hatte. Sie hatte dunkles Haar, war klein und pummelig und musterte ihn durch dicke Brillengläser. Das konnte also auf gar keinen Fall jene Lea sein. Aber die von seinem Telefonflirt angegebene Nummer hatte er neben dem Namen Maria Rothe gefunden, in der Kastanienallee 17. Schnell las er noch einmal den Namen an der Tür. Er war hier richtig. Kein Zweifel.

      „Guten Tag, ist Lea da?“ Er wirke sehr selbstsicher.

      „Ja, aber wer sind Sie?“

      „Wir sind verabredet, sagen Sie Lea bitte, dass Roland da ist.“

      Die kleine, dicke Göre bat ihn offenbar nur widerwillig herein. Als er sich auf den altmodischen Sessel in der Diele fallen ließ, war sie schon am Ende des Flurs hinter einer Tür verschwunden. Aber er hörte nur leises Gemurmel.

      In der Küche schien auch noch jemand zu hantieren. Es roch nach Bratkartoffeln. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen.

      Eine helle Stimme fragte: „Wer ist denn gekommen, Susi?“

      Vielleicht Leas Mutter? Oder eine Haushälterin, wo doch Lea dauernd so dicke Bücher übersetzen musste?

      Susi rief von irgendwo: „Jemand für Lea, ich sage ihr schon Bescheid …“

      Roland entspannte sich und lehnte sich noch tiefer in den Sessel zurück. Es gefiel ihm hier, lauter Regale mit Büchern. Na ja, eben eine Übersetzerin, eine Intellektuelle, mal was ganz anderes, als die alten dummen Wachteln, die er bisher hatte …

      „Lea kennt keinen Roland, gehen Sie bitte, sonst rufe ich die Polizei!“, holte ihn Susi in die Gegenwart zurück.

      Wie konnte ein kleines, dickes Mädchen so energisch sein?

      Schon steuerte sie auf das Telefon zu, aber der Hörer lag nicht in der Mulde.

      Roland sprang auf.

      „Aber das ist doch nicht möglich“, protestierte er, „wir haben heute mehrfach und sehr lange miteinander telefoniert … vielleicht richten Sie Ihrer großen Schwester aus, dass ich unten auf sie warte…“

      Er wollte keine Schwierigkeiten, und die Polizei konnte er gleich gar nicht gebrauchen.

      „Meine große Schwester?“, kreischte nun die Dicke, „dass ich nicht lache! Meine Schwester ist erst zwölf und geht in die sechste Klasse, ich aber schon in neunte … und außerdem ist sie krank und liegt seit Tagen mit Fieber im Bett … und mit Halsschmerzen …“

      Was das dicke Kind mit der Brille sonst noch von sich gab, interessierte Roland nicht mehr. Hochrot im Gesicht nahm er immer ein paar Stufen auf einmal und zog die Haustür hinter sich ins Schloss.

      ***

      Filmreif

      In der kleinen Bankfiliale war nicht viel los. Elvira Winter, die Kassiererin, war beim Geldzählen, wie immer, wenn der Feierabend in greifbare Nähe rückte.

      Als einzige Kundin stand Oma Lamm noch am Schreibpult. Sie sah nicht mehr so gut, aber schaffte es dennoch, jeden Freitag um diese Zeit eine kleine Summe von ihrer Rente abzuheben. Die Angestellten wussten, dass Ilse Lamm dazu nie an den Geldautomaten ging, obwohl das Ausfüllen des Formulars für ihre gichtknotigen Finger auch keine leichte Angelegenheit mehr war. Diese Mühe nahm sie notgedrungen auf sich. Plastikkarten waren ihr zuwider und Geheimzahlen konnte sie sich nicht merken. Sollten jene doch geheim bleiben bis in alle Ewigkeit.

      So füllte sie, die Zungenspitze zwischen den Lippen und mit der neumodischen Technik hadernd, den Auszahlschein aus.

      „Fertig“, murmelte sie, wedelte mit dem Formular, als müsste erst noch die Tinte trocknen und machte sich auf den Weg zum Schalter. Gleich würde Frau Winter ihr das Geld herüberreichen.

      Doch plötzlich glitten hinter ihr die Flügel der Glastür surrend auseinander. Sie drehte sich um, denn das war für diese Zeit sehr ungewöhnlich. Ein langer Mann in langem Mantel, mit wehender Mähne und Bart stürmte sogleich an ihr vorbei zur Kasse.

      Na, so geht das aber nicht, dachte sie und trat