Adrian Klahn

Die blinde Passagierin


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Du weißt, dass ich Dich nie freiwillig verlasse, denn ich liebe Dich über alles Vorstellbare! Umso mehr schmerzt es mich, Dich in Gefahr zu bringen und Dir solch eine Verantwortung zu überschreiben. Nur bist Du vermutlich der einzige Mensch auf der Erde, dem ich noch trauen kann und die einzige Person, die in der Lage ist dafür zu sorgen, dass La flor de Verdad im Verbogenen bleibt und nicht in die falschen Hände fällt. Seitdem Du in den Kreisen dieses Arztes verkehrst habe ich ein ungutes Gefühl.

       Sobald du fündig bist, wirst du verstehen. Sobald Dein letzter Atemzug getan, wirst bei mir sein…

       Gott möge mir vergeben, denn ich muss Dich um einen letzten Gefallen bitten. Wenn es Dir möglich ist, finde La flor de Verdad und trage Sorge dafür, dass sie in den nächsten Jahrhunderten nicht gefunden werden kann. Es muss sein. Damit am Ende der Verstand nicht kopfsteht. Da ich Dir zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu sagen vermag, weil ich nicht weiß, ob Du letztendlich Empfänger meiner Nachricht wirst, sei nur so viel gesagt. Sollte es Dir schlecht ergehen, halte ein und erinnere Dich an Platons Höhlengleichnis.

       In ewiger Liebe, Papa

      Mit glasigen Augen hielt sie den in Sütterlin-Schrift gehaltenen Brief aus der Elfenbeindose vor ihre Nase und atmete tief ein. Sie drehte ihn um und wollte ihn wieder zurücklegen als sie plötzlich eine Unebenheit auf dessen Rückseite bemerkte. Aufgebracht sprang Credo hoch, lief zu ihrem Schreibtisch und sah im Licht der grünen Bänker-Lampe, in schwaches violett getaucht, eine Blume, wie sie sie noch nie zuvor gesehen hatte.

      Auf einem dünnen Strang stand ein zylinderförmiger Kelch mit auslaufenden Spitzen zur Seite und inmitten der Blüte erhob sich ein feinstaubiger Stil. Am ehemaligen Schreibtisch ihres Vaters hatte sie ein solch dickes Papier mit derartiger Struktur bisher nicht gesehen. Auch einen Stempel mit dieser Blume hatte es nie gegeben. Es schien als wären unter der Blume eingestanzte Buchstaben vorhanden, oder eher Zahlen. Vielleicht waren es auch Koordinaten. Aber sie waren zu undeutlich und ohne Farbe als dass man hätte irgendwas Brauchbares erkennen können.

      Zornig wich sie mit ihrem Blick auf die grüne Bänker-Lampe aus, starrte einige Sekunden in das Licht während ihr eine Träne über die Nase glitt. Einen Moment überlegend fiel ihr ein, wie oft sie ihren lieben Papa Alfons enttäuscht hatte, weil sie stets ihren Dickkopf durchzusetzen versuchte. Schon vor langer Zeit als Vierjährige schnappte sie sich ihren Puppenkoffer mit Rädern und marschierte, fuchsig über die frühen Bettgehzeiten, zur Tür hinaus, um ihrem Elternhaus für immer den Rücken zuzukehren. Um ihr Überleben zu sichern hatte Credo die Taschen gefüllt mit Kaugummis von der Straße, die sie platt walzte, um sie an Kinder zu verkaufen, die draußen Gummihopse spielten, und kam mit ihrem Plan fast einen ganzen Häuserblock weit.

      Doch in letzter Sekunde bemerkten ihre Eltern den spontanen Auszug und holten die kleine Credo von der Straße. Diese war zwar selten befahren aber ab und an zischte schon ein wuchtiges Automobil an ihrer Haustür vorbei.

      Dann bekam sie lauten Ärger von ihrer Mutter, die als Ausdruck ihres Entsetzens stets mit „Schockschwerenot!“ reagierte. Doch ihr Vater hielt sich zurück, schüttelte nur seinen Kopf mit den Worten, „mein kleiner Milchrahm“. Geschlagen hatte er sie nie.

      Zum Ende seines Lebens benahm sich ihr Papa allerdings immer merkwürdiger. Sie liebte ihn über alles, aber er machte seiner Tochter Angst, als er tagelang in schmutzigen Cordhosen vor seiner Hermes Baby saß, obwohl er die Schreibmaschine nicht berührte. Dann sprach er ständig von einem Drachenwurz, manchmal futuristischer Technik wie ultraviolettem Licht, mit dem versteckte Schriften sichtbar werden, von sich wiederholenden Ereignissen, spirituellen Weisheiten und von Dingen wie, dass es nicht mehr allzu lang dauern würde bis die Welt Fernsehgeräte mit Farbe zu Gesicht bekäme und bald jeder davon eines im Haushalt führe.

       Sollte der alte Mann auf seine letzten Tage vielleicht verrückt geworden sein?

      Es machte sie wütend, dass auch er Credo viel zu früh allein gelassen hatte. Traurig faltete sie den Brief zusammen und legte ihn zurück in die Elfenbeindose. Und während der Wind draußen Zeitungsreste aufwirbelte, versteckte sie die Dose wieder unter der kaputten Diele.

      Die Nachbarschaft steckte noch in den Schlafanzügen als sich Credo in den Schwingsattel ihres schwarzen NSU 251 OSL- Motorrads setzte, um zur Markthalle zu fahren. Am Alexanderplatz blitzte ihr Tank mit den verchromten Seitenfeldern auf. Der laute Motor röhrte am Roten Rathaus entlang, wo die Menschen voller Zuversicht und Träume aufblickten, während Konrad Hermann Joseph Adenauer eine Rede hielt.

      Das geteerte Aderwerk der Metropole war noch immer erhärtet durch die kühle Novemberluft, weshalb Credo etwas Gas wegnahm als sie mit ihrem aufsteigenden Atem auf die Menge blickte. Sie stoppte ihr Motorrad einen Augenblick und sah nach einem Zeitungsjungen der mit einem Stern in der Hand lauthals umher brüllte.

      „Noch immer echauffiert sich Deutschland, über die Hildegard Knef in ihrer skandalösen Rolle als die Sünderin!“

      Mit einem Fingerzeig bedeutete sie ihm rüberzukommen, nahm ihre Motorradbrille nicht ab und drückte dem Jungen mit der zerlöcherten Jacke 10 Pfennig in die Hand und hielt mit ihrem Blick bewundernd auf das Titelbild der Zeitung. Sie las noch im Stehen etwa die Hälfte des Artikels über eine …mutige Frau.

      Plötzlich trat ein flaues Gefühl in ihren Unterleib und ließ ihre Begeisterung schwinden. Einen kurzen Moment hielt sie inne, überlegte was sie zum Frühstück gegessen hatte und beschloss, dass der Anflug von Übelkeit an den Frühstückseiern lag. Sie stellte ihre Maschine ab, steckte das Nachrichtenblatt in ihre lederne Umhängetasche und lief über die Straße zur Markthalle.

      Für gewöhnlich saß Credo, nachdem sie eine Auswahl des überschaubaren Nahrungsangebots getroffen hatte, eine Weile unter dem Fabrikfenster und nahm die vielen Gerüche auf. Doch heute blieb sie nicht lang. Hier, wo Holzkisten mit Gemüseresten und leeren Weinflaschen gelagert wurden, hockte sie in der Ecke, schnallte sich endlich die Brille von der Lederhaube, kreiste kurz ihre Schultern und aß trotz eines schummrigen Magengefühls ihren Kirschenmichel.

      Von gegenüber trug sich der warme Duft von gestapeltem Mischbrot und selbstgemachter Marmelade in ihre Nüstern als Credo das dahinterliegende, gusseiserne Eingangstor zur Kenntnis nahm. Für einen Moment beschlich sie das Gefühl beobachtet zu werden. Da fielen ihr zwei Männer auf in schwarzen Ledermänteln, die bei den Gurkenfässern standen. Weder redeten sie mit einander, noch aßen sie etwas oder kauften ein. Ihre kurz geschorenen Köpfe hielten lediglich in Credos Richtung.

      Mit einem Mal dachte sie daran, wie es wäre fliegen zu können und ein knappes Déjà-vu, aus ihrem Traum von letzter Nacht, flammte auf.

       Warum verfolgten sie Träume, in denen es darum ging jemanden zu schützen. Was suchte ihr Innerstes ihr mitzuteilen und was sollte sie schützen, …vielleicht Albert? Da gab es doch niemanden. Das waren nichts als phantastische Träumereien, in denen sie stark war und Fliegen konnte, Wunschgedanken also.

      Nach einem tiefen Seufzer las die Antiquitätenhändlerin den Rest des Artikels in dem wiederholt das Wort Emanzipation der Druckerschwärze entglitt. Einstweilen machte lautstark der Lieferant seinen Gemüsehändler, auf den zentral organisierten Aufbautag aufmerksam und fragte ob er denn heut mitmache bei der Enttrümmerung.

      Trotz der Kälte in der Markthalle lief Credo eine Schweißperle über die Stirn und immer wieder hörte sie in sich eine Stimme sagen, Albert. Gereizt vernahm sie ein Kribbeln unter der Haut, ihr Blick wirkte leicht verschwommen, der Unterleib verkrampfte. Ein Husten drängte sich durch ihre Lunge. Wieder schwappte so etwas wie ein inneres Zusprechen in ihre Gedanken…

      Dann sprang sie auf, lehnte sich über einen Stapel Weinkisten und entleerte ihren Mageninhalt. Als sie ihren Mund mit dem Handrücken abwischte, den Oberkörper wieder aufrichtend und zum Eingang blickend, waren die Ledermäntel verschwunden. Auch sonst schien sich niemand für sie zu interessieren. Bis ein Mann mit verschmierter Latzhose zu ihr rüber raunte:

      „Na wenn ick mit so em zusammen leben müsste, würdig och täglich spucken!“ Fragend blickte