Marcus Lüthke

Besser im Jenseits als im Abseits


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nur wegen ihr.

      Mein Zorn ist mittlerweile unaussprechlich. Die Seitenwahl mit den beiden Kapitänen muss per Schnick-Schnack-Schnuck entschieden werden, da ich keine Münze bei mir habe. Ich bemerke ihre irritierten Blicke auf meine Sonnenbrille, und bevor es zu lästigen Fragen kommen kann, sage ich: „Ein Augenleiden. Wie bei Heino. Und noch was: Meine Laune ist heute sehr bescheiden. Wenn ich eine Entscheidung treffe und sage, so und so ist das, dann ist das auch so. Also kommt nicht auf die Idee, wie die Babys zu plärren und um mich rumzutanzen. Und wer an mir rumzuppelt, fliegt sofort vom Platz. Ist das klar?“

      Das Spiel ist zum Gähnen langweilig. Kann aber auch daran liegen, dass ich mit meinen Gedanken woanders bin.

      Drei Jahre. So lange hatte ich es noch nie mit einer Frau ausgehalten. Wir sind sogar zusammengezogen. Ich dachte an Heirat, Kinder, gemeinsames Altwerden. Sicher, in den letzten Wochen lief es nicht so berauschend, wir stritten immer häufiger, und im Bett war auch nichts mehr los. Aber da machte ich mir keine Gedanken und tat diese Zeit als schlechte Phase ab. Als ich gestern nach Stadion und Kneipe die Wohnung aufgeschlossen hatte, wusste ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Das lag zum Großteil auch daran, dass mir als erstes der Umschlag ins Auge fiel, der auf dem Boden lag. Mein Name stand darauf. Sie hätte es nicht gewollt, könne sich aber gegen ihre Gefühle nicht wehren; sie würde eine persönliche Verabschiedung nicht verkraften, sie habe ja nie aufgehört, mich zu lieben; aber sie habe ihren Seelenpartner gefunden, sie würde sich ihr Leben lang ärgern und sich fragen, wie es wohl mit ihm geworden wäre, das würde sie sich nie verzeihen; ich solle sie bitte so schnell wie möglich vergessen, die restlichen Sachen lasse sie abholen, nix für ungut.

      Seelenpartner? Nach drei Jahren nichts weiter als ein paar Zeilen? Kannte ich ihn? Womöglich ein gemeinsamer Freund? Oder, noch besser: einer meiner Freunde?

      „Schiri!“ Ich wische den Regen von der Sonnenbrille und stelle fest, dass sich das Spielgeschehen in die andere Hälfte verlagert hat. Scheinbar habe ich in Strafraumnähe Wurzeln geschlagen und vergessen, die angreifende Mannschaft bei ihrem Versuch zu begleiten, endlich mal so etwas wie eine Torchance zu kreieren. Etwa 60 Meter entfernt liegt ein Spieler am Boden, hält sich den Knöchel und windet sich vor angeblichen Schmerzen. Die anderen stehen dicht beieinander, brüllen sich an, hier und da wird geschubst. Oha, denke ich, Rudelbildung. Im Laufschritt mache ich mich auf den Weg.

      Meine Phantasie geht mit mir durch. Für mich steht da ein Haufen von potentiellen Seelenpartnern. Jeder von ihnen könnte es sein. Am Boden, zu ihren Füßen, liege ich; nicht mit gebrochenem Knöchel, sondern mit gebrochenem Herzen.

      „Was ist hier denn los?“, frage ich völlig außer Puste und stütze mich auf meine Knie. Die Spieler ignorieren mich, machen keine Anstalten, ihr wütendes und lautstarkes Wortgefecht zu unterbrechen, und von mir aus können die sich auch gegenseitig die Schädel einschlagen, aber jetzt hab ich den Weg schon mal gemacht. Mir fällt auf, dass ich meine Pfeife bisher noch nicht benutzt habe. Unfassbar, wenn man bedenkt, dass bereits knapp 20 Minuten gespielt sind. Mit dicken Backen blase ich all meine Wut in die kleine Öffnung. Ein Fehler. Meine Kopfschmerzen waren gerade auf ein erträgliches Maß abgeklungen, jetzt schreckt der Pfiff sie wieder auf. Aber wenigstens habe ich augenblicklich die ungeteilte Aufmerksamkeit der Horde. Sie verstummen und starren mich an, nur der Verletzte wimmert wie ein Baby. Der Kapitän der Heimmannschaft findet als erster die Sprache wieder: „Wie, was hier los ist? Solltest du das nicht am besten wissen? Du bist immerhin der Schiedsrichter. Der hat den brutalst umgetreten! Von hinten!“

      Da ich keine Ahnung habe, wovon er redet, starte ich ein Ablenkungsmanöver. „Das Duzen des Schiedsrichters ist verboten und gilt als Beleidigung“, verkünde ich und halte dem verdutzten Spielführer die Gelbe Karte vor das Gesicht. Auf gut Glück verteile ich fünf weitere Verwarnungen, vergesse jedoch, mir die Rückennummern zu notieren, wodurch es im späteren Verlauf zu vermeidbaren Tumulten kommt, entscheide auf Schwalbe und verwarne auch den Gefoulten mit Gelb. Der wird kurz darauf mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren.

      Nach einer halben Stunde steht es immer noch 0-0, aus dem Nieseln ist ein mittelschwerer Landregen geworden, mein Shirt klebt an meinem Körper. Keine Lust mehr. Zehn Minuten zu früh pfeife ich zur Halbzeit. Meine Assistenten stürmen auf mich zu, halten mir ihre Stoppuhren unter die Nase, der eine nennt mich Vollidiot. Ich zeige auch ihm die Gelbe Karte und drohe, ihn im Spielbericht zu erwähnen.

      Überhaupt ist die Stimmung äußerst angespannt. Beim Gang in die Umkleide erreichen die Beleidigungen der Zuschauer eine ganz neue Qualität, einige drohen mit der Faust. In letzter Zeit gab es immer häufiger Meldungen über Ausschreitungen bei unterklassigen Spielen. Vorsichtshalber informiere ich die Polizei und bin froh, als ich beim Gang aus der Kabine zwei parkende Streifenwagen auf der Straße ausmache. Ein Polizist steckt mir kopfschüttelnd etwas unter den Scheibenwischer, woraufhin meine Wut noch mal so richtig schön ins Brodeln kommt.

      Gleich zu Beginn der zweiten Halbzeit bekommt sie der Torwart der Heimmannschaft zu spüren. In der Sekunde, als er den Ball abschlägt, gellt mein Pfiff in den dunklen Herbsthimmel. Ich sprinte zu seinem Strafraum und deute mit ausgestrecktem Arm auf den Rasen. Sofort bin ich von der kompletten, wütenden Mannschaft umringt. Natürlich nicht so wütend wie ich. „Wehe, es zuppelt einer an mir rum!“, rufe ich und erkläre den Sachverhalt. „Ball und Hand des Torwarts waren außerhalb des Strafraumes. Freistoß. Nächstes Mal besser aufpassen.“ Der Torwart stampft mit dem Fuß auf, als er seine Gelbe Karte kassiert, beugt sich aber meiner Autorität.

      Den Freistoß schlenzt die Nummer 10 der gegnerischen Mannschaft herrlich ins linke obere Eck, und um ein Haar hätte ich applaudiert.

      Irgendwann, so ab der 70. Minute habe ich den Überblick verloren, wem ich bisher die Gelbe Karte gezeigt habe. Insgesamt dürfte es rund 15 vorbelastete Spieler geben. Aber wie gesagt, meine Fähigkeit des Schätzens tendiert gegen null. Als der linke Verteidiger der Heimmannschaft den gegnerischen Mittelstürmer durch einen Trikotzupfer zu Fall bringt, muss ich mich entscheiden. Bei 22 Spielern auf dem Feld stehen seine Chancen nicht schlecht, schon verwarnt zu sein. Ein Pfiff, ein Sprint, ich baue mich vor ihm auf und halte ihm unnötig dicht erst die Gelbe, dann die Rote Karte vors Gesicht. Er fasst sich an den Kopf. „Sag mal, du spinnst wohl! Ich hab doch noch gar nicht Gelb!“

      „Spinnen Sie“, korrigiere ich ihn. „Sehr wohl haben Sie schon Gelb. Das weiß ich ganz genau. Und außerdem haben Sie mich soeben durch das Duzen und den Spinner doppelt beleidigt, wofür Sie ohnehin zwei Gelbe Karten bekommen würden. Also: hopp, hopp. “

      Mit aller aus dem Fernsehen abgeschauten Theatralik, den Blick in den Himmel gewandt, weist mein Zeigefinger ihm den Weg vom Platz. Er faselt was von Kratzern auf meinem Auto.

      Die Flut an Gelben Karten hat mein Gemüt beruhigt. Ich werde müde. Noch ne Viertelstunde, denke ich, dann ab in die Badewanne und aufs Sofa und Rachepläne schmieden, als plötzlich eines aus den vielen verschiedenen Schimpfwörtern der Zuschauer mich veranlasst, nach dem Urheber zu forschen. Langsam wende ich meinen Kopf. Da steht er. Den Spazierstock in die Höhe gereckt, das Gesicht krebsrot, sein Kinn glänzt vor Speichel. „Hosenpisser!“, brüllt er immer wieder. „Du Bettnässer, wenn ich dich erwische!“ Weil ich Angst vor ihm und seinen Rentnerfreunden habe, traue ich mich nicht näher ran und zeige ihm von Höhe der Mittellinie aus die letzte Rote Karte des Tages. Muss ich mir das hier antun? Was, wenn es eine Verlängerung gibt? Beim Stand von 0-1 in der 74. Minute pfeife ich das Spiel ab.

      Ich merke, wie gut es mir getan hat, meiner Wut freien Lauf zu lassen und bin mit meiner Leistung als Unparteiischer sehr zufrieden.

      Aber jetzt muss ich los, denn ich bin nicht Hulk, und eine wütende Meute rennt hinter mir her. Ich drehe mich um. Sie kommen näher. Manche von ihnen tragen kurze Hosen. An den runden Hölzern, die einige über ihren Köpfen schwenken, weht ein Stück Stoff. Es sind die Eckfahnen.

      Geil

      Gott, was bin ich geil!

      Das ist soweit erst mal nichts Neues. Auch gestern war ich mordsmäßig geil. Und wenn ich mich richtig erinnere, auch am Tag davor. Ehrlich gesagt, ich kann