Yahya Wrede

Der Cyber-Mönch


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und wer oder was steuert dann wiederum die Meinungsmacher? Eine Metatruppe?“

      „Schon möglich. Oder niedere Triebe und Instinkte. Personifiziert: die dunklen Mächte, buaah ...!“

      „Eh klar. Und wer sind dann die Guten?“

      „Im Großen: Die Heiligen und sonstigen Meister. Im Kleinen: die Helden des Alltags. Denn der Kampf Gut gegen Böse sollte uns nicht so sehr in der großen weiten Welt interessieren, wo wir ihn kaum beeinflussen können, sondern vielmehr in unserem eigene kleinen Inneren, da haben wir Sieg oder Niederlage in der Hand. Jeder kann mitmachen.“

      „Und zwar auf beiden Seiten. Gibt es da Prozentsätze?“

      „Laut Wahrscheinlichkeitsrechnung sind immer 20 überm Durchschnitt, 60 in der goldenen Mitte, und 20 unterm Strich. Wird hier wohl auch so sein.“

      „Nicht gerade rosige Aussichten. Seis drum, das soll uns jetzt nicht den Appetit verderben. Dessert?“

      „Klar, Tiramisu, das ham wer uns verdient!“

      „Zahlen?“

      „Komm, ich lad dich ein. Hast so schön philosophiert heut.“

      „Dankeschön! Und da sag noch einer, das sei eine brotlose Kunst.“

      „Hierzulande zahlt ja üblicherweise jeder seinen eigenen Kram, dann gibts immer endlose Additionen, da find ich ja die italienische Methode besser, alles in einen Topf, und jeder zahlt den gleichen Teil, ist gemeinschaftlicher.“

      „Klar, und du mußt nicht so viel rechnen ... geht nur dann nicht gut, wenn einer auf Diät ist und gar nicht so viel essen möchte wie die anderen.“

      „Nana, da sind wir flexibel, wer nicht ißt, zahlt auch nicht, oder rundet nur auf fürs Trinkgeld.“

      „Darum geht’s, nicht so steif abrechnen unter Freunden. Aber eingeladen zu werden ist natürlich noch viel besser!“

      „Siehst du, so machen Nehmen und Geben gleichermaßen Freude.“

      „Es lebe die win-win-situation, eben deshalb ist Freigebigkeit auch eine der großen Tugenden weltweit.“

      „Oh, sogar noch hell draußen, dann ham wa ja immer noch was vom Wochenende.“

      „Vor allem Ruhe nötig, nach dem langen Überstundentag heut.“

      „Schade, daß es nu mit der Austellung nich geklappt hat, müssn wa echt morgen nachholen, vielleicht ruf ich dich an gegen Nachmittag?“

      „Gern, ich bin immer für geistige Erbauung.“

      „Wie bist du dann nur in der Computerbranche gelandet? Ist doch das genaue Gegenteil.“

      „Absolut nicht. Es kommt darauf an, was man draus macht. Mich faszinieren Technik und Logik, aber im Dienste des Menschen, nicht umgekehrt.“

      „Klar, was sonst.“

      „Nee, so klar ist das nicht, die meisten Leute räumen heutzutage der Technik das Primat ein und ordnen sich ihr unter, das muß man sich mal vorstellen, früher waren Werkzeuge ergonomisch den Bedürfnissen der Menschen angepaßt, heute muß sich der Mensch den Vorgaben der Technik fügen, entweder du weißt mitzuspielen, oder du bleibst draußen vor der Tür. Wohin soll das führen, wenn man immer alles gleich macht, was irgendwie geht? Es ist uns die Kraft und Ruhe zu reiflicher Überlegung abhanden gekommen, technische Geschwindigkeit und Komplexität ignorieren die geistig-seelische Ebene der menschlichen Existenz, die auf einen beschaulicheren Rhythmus ausgerichtet ist, auf Einfachheit und Unkompliziertheit.“

      „Nana, dafür liefert Technik greifbare Resultate und vereinfacht das Leben, körperliche Arbeit war früher ein anderes Kaliber, oder nicht? Aber warum sollten unsere Errungenschaften notwendig den emotionalen Teil des Daseins ausblenden, das Leben verändert sich, ja, aber das hat es schon immer gegeben, von der Steinzeit bis hin zur Moderne, man muß mit der Zeit gehen, macht doch auch viel Spaß.“

      „Technik soll ja grundsätzlich sein, aber sie schreitet heutzutage viel zu schnell voran und verdrängt damit als Nebeneffekt das natürliche und existenzielle Bedürfnis des Menschen nach höherer Wahrheit; der Imperativ kalter Rationalität stellt sich über die Sehnsucht nach Harmonie, und der spirituelle Bezug zur Umwelt wird nach und nach ausgeblendet.“

      „Ausgeblendet wird Einbildung zugunsten wissenschaftlicher Fakten. Entschuldige, aber du wolltest doch der Wahrheit ins Auge sehen.“

      „Das tu ich ja, deswegen nehme ich im Gegensatz zu dir die Technik nicht als Wunder- und Allheilmittel wahr, sondern als Freund und Gegner des Menschen, je nach Anwendung. Wenn sie uns hilft, gut, wenn sie benutzt wird, uns glauben zu machen, sie könne alle Probleme lösen, schlecht. Technikfreaks und Biologen sind äußerst selten religiös, sie haben sich einen anderen Gott gewählt.“

      „Inwiefern ist das negativ? Soll doch jeder nach seiner eigenen Façon glücklich werden?“

      „Das sowieso. Aber wenn du mich fragst, was ich von diesem Religionsersatz halte: gar nichts. Ich sehe Religion - die klassische - als ureigensten Ausdruck und Teil der menschlicher Natur. Technik ist die mehr oder weniger gelungene Beherrschung der Materie, aber sie hat keine geistig-seelische Ebene. Die menschliche Seele jedoch hat als einzige Daseinsform die Möglichkeit und das tiefe Bedürfnis, Geist und Materie miteinander zu verbinden, wir allein gehören beiden Welten an.“

      „Für mich ist der gesunde Mensch eher bodenständig als spirituell, wir leben nun mal in einer materiellen Welt.“

      Tag 2 - Die sich öffnende Hand

      „Ich bleibe dabei, daß wir alle von Natur aus eine religiöse Ader in uns haben, die allenfalls durch fehlende Erziehung oder schlechte Erfahrung zugeschüttet worden ist, aber bei der erstbesten Gelegenheit dann doch wieder zum Vorschein kommt. Nicht nur beim Stoßgebet, auf ganz natürliche Art, nimm diesen Sonnenuntergang zum Beispiel, guck, wie die verschiedenen Farben alle leuchtend nahtlos ineinander übergehen, ist doch überwältigend, schlichtweg genial. Und wenn Natur dich unterweist, dann geht die Seelenkaft dir auf. Denkst du da nicht unwillkürlich an eine schöpferische Hand?“

      „Eher an Lichtbrechung. OK, ich gebe zu, deine Argumente sind nicht ganz von der Hand zu weisen, trotzdem kann man Religion genausogut auch als Kompensation eines rein psychologischen Bedürfnisses nach letzten Erklärungen definieren denn als echtes Erleben.“

      „Seit Anbeginn der Menschheit beschrieben und besungen, quer durch alle Zeiten und Völker? Leitbild ganzer Kulturen? Inspiration der größten Kunstwerke? Der schönsten Musik? Der unglaublichsten Bauwerke? Quelle der tiefsten und meistgelesenen literarischen Schriften? Alles Folge kollektiver geistiger Umnachtung? Come on!“

      „Hmmm, mit dir ists echt schwierig.“

      „Nö, überhaupt nicht, federleicht. Aus der Nähe zum Göttlichen folgen Erbauung, Ergriffenheit, Ehrfurcht. Der Energieerhaltungssatz der Weisheit: Wenn du einen religiösen Text liest und ihn dann nach einiger Zeit noch einmal in die Hand nimmst, wirst du wieder komplett neue Sachen darin entdecken, er wird nie langweilig, sondern dich immer wieder neu begleiten.“

      „Das ist doch so mit allen Weisheitsbüchern oder großer Literatur, bei jedem Lesen erschließen sich einem andere Welten, je nach Verfassung und Lebenserfahrung.“

      „Eben, denn alle spiegeln sie die lebendige menschliche Seele wider, und nicht ihren angeblich pathologischen Zustand.“

      „Oi, jetzt kommt erst mal Straßenbahnerfahrung, von den höheren Weihen ultimativer Theorie zurück in die Niederungen menschlicher Praxis. Hab ich ja gesagt, Technik hat auch Segnungen zu bieten.“

      „Muß nur alles an seinem Platz bleiben.“

      „Jetzt nich schon wieder, mein Pensum für heute ist erreicht.“

      „Schläfste nachher besser.“

      „Das tu ich jetzt