Yahya Wrede

Der Cyber-Mönch


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zu werden. Trotzdem streben wir unbelehrbar wie die Motten immer wieder zum verhängnisvoll Außergewöhnlichen, anstatt das Normale zum Ideal zu erheben, wollen die Verbesserung dessen, was doch längst mehr als gut genug für uns ist, müssen die letzte technische Errungenschaft auch noch besitzen, ohne Rast und Ruhe, bis wir dann früher oder später bei der Jagd über unsere eigenen, zu langen Wunschbeine stolpern. Wie bitte? Kleine Denkpause? OK, mach ich gern, bitteschön ...

      Dankesehr! Ja, so saß der Triv gemütlich bei sich zu Hause, an seinem Lieblingsplatz am Küchentisch, denn obgleich er ein schönes Wohnzimmer sein eigen nennen konnte, sprach ihn die Kombination von praktischen Gerätschaften und schlichter Ästhetik an, wie sie nur Küchen bieten können, industrielles Design trifft Stillleben, und so relaxte er meistens hier, am Küchentisch eben, und hing seinen Gedanken nach, jetzt, zum Feierabend, endlich, nach einem anstrengendem Tag, einer anstrengenden Woche, einem anstrengenden Monat, vielleicht sogar einem anstrengenden Leben, jedenfalls kam es ihm manchmal so vor, er machte seine Arbeit ja ganz gern, Computerspezialist bei einem größeren Serviceanbieter, aber seit einiger Zeit ging es ihm öfters durch den Kopf, ob es das nun sei, was man das wahre Leben nenne, oder ob er da gerade etwas verpasse. Frau und Kinder vielleicht, sicher, das könnte ihm fehlen, doch wer weiß, wenn die Familie jetzt unten im Garten mit dem unvermeidlichen Hund spielen würde, würde er dann nicht genau dieselben Gedanken hegen wie jetzt? Mitte dreißig und schon Midlifecrisis? Bis Ende zwanzig hatte er über nichts so richtig nachgedacht, Schule eben, Abi, was alle so machen, das und der Rest hatten sich alles von selbst ergeben. Mathematik hatte ihn schon von klein auf fasziniert, dann Informatik, seine Berufswahl lag da auf der Hand, Spezialisten wurden gesucht, er hatte gleich was Passendes gefunden. Ein Spruch von Galilei hatte es ihm besonders angetan: Mathematik ist das Alphabet, mit dessen Hilfe Gott das Universum beschrieben hat. Wozu sollte man heutzutage noch religiös sein, war sein unausgesprochenes Motto, wenn es verläßlichere Quellen der Erkenntnis gibt. Und ahnte nicht, daß seine Gedanken in höchster Instanz auf Interesse gestoßen waren beim Weber seines Schicksals, der zur Stunde bereits alles fein säuberlich eingefädelt hatte, um unseren Helden gehörig auf die Probe zu stellen, ihm seine mathematisch-atheistischen Überzeugungen dergestalt ad absurdum zu führen, daß er sich bald seines eigenen Namens nicht mehr mit Sicherheit würde erinnern können. Aber wir greifen vor, noch ist ja alles ruhig, das Wochenende steht vor der Tür, und Meister Triv erinnert sich sehr wohl, und zwar genüßlich seiner Anfänge, das Eintauchen in die Wunderwelt der Algebra und der Geometrie, wie dort alles zusammenpaßt, die rätselhafte Zahl Pi 3,141, die geheimnisvollen Primzahlen - er bewunderte Gauß -, von denen die ersten neun die Summe 100 ergeben, und deren Quadrat minus 1 ab der dritten immer eine durch 24 teilbare Zahl ergibt: 52 = 25, - 1 = 24, dann 72 = 49, - 1 = 48, dann 112 = 121, - 1 = 120, undsoweiterundsofort, wobei die 24 selbst aus den ersten vier Zahlen 1 x 2 x 3 x 4 gebildet werden kann, die unendlichen unfasslichen Relationen der Zahlen, Algorithmen und Gleichungen, ein Kosmos der Logik, Perfektion, Ordnung und Harmonie, frei von Widersprüchen, eine ideale Welt, auch ohne spirituell aktiven Urheber. Der erste Knick, so erinnerte er sich weiter, war dann pünktlich zum 30sten gekommen, da hatte er erstmals ernsthaft reflektiert, Schluß jetzt mit lauter Jux und Dollerei, ein Lebensabschnitt ist unwiderbringlich zu Ende, worum geht es hier eigentlich, er hätte heiraten sollen, siehe oben, aber dazu gehören ja bekanntlich immer zwei. Vielleicht bedurfte es noch gar nicht einmal so sehr der Veränderung von außen, eher einer Neukalibrierung seiner Einstellung zum Leben im allgemeinen, er hatte schon an eine Auszeit gedacht, ein Sabbatjahr, sechs Monate Motorradtour durch Südamerika, ein halbes Jahr in einem Kloster in Thailand, oder wieder mit Yoga anfangen, ging ja ganz locker damals mit Anfang 20, bis dann doch wieder irgendetwas dazwischenkam und die Sache im Sande verlief, irgendwie kam ihm alles etwas hohl vor zur Zeit. Doch in die melancholischen Töne mischten sich, ganz seinem Naturell entsprechend, auch optimistische und humorvolle Gedanken: das Leben ist kurz, alles nur eine Phase, hinterher lachen wir herzlich darüber. Heute so, morgen wieder anders, wir werden schon noch unseren Weg finden. Offen bleiben, nicht verkrampfen, dann kommt das Glück von selbst zur Tür herein. Daher wollte er jetzt auf jeden Fall erst einmal die Arbeitswoche angenehm ausklingen lassen mit süßem Nichtstun - eine seiner Lieblingsbeschäftigungen - und freiem Assoziieren, die Gedanken locker umherschweifen und aus der Strenge des analytischen Denkens ent-lassen, das entspannte ihn immer so schön. Unser Held des Alltags dachte also da weiter, wo er vor unserer erzählerischen Unterbrechung uns zuliebe höflicherweise aufgehört hatte. Bittesehr:

      Dankeschön! Es gehört ja wohl unbestreitbar zur menschlichen Natur, wider besseres Wissen handeln zu können, ich mache da gar keine Ausnahme, so wie der Fischer und seine Frau: ihm reicht stets das Erreichte, aber sie stürmt weiter bis zum Umfallen. Man könnte eine Menge aus Mythen und Fabeln lernen, vor allem von den griechischen, großartige Psychologen, wenn man sie denn nur hin und wieder mal wieder zur Hand nehmen würde, doch überläßt man das Studieren lieber der Jugend und beschränkt sich aufs fleißige Belehren seiner Mitmenschen aus dem unerschöpflichen Fundus seiner eigenen Lebenserfahrung, obwohl gerade auch das gescheite Belehren eine Kunst darstellt, die das tiefe Verständnis des erörterten Gegenstandes voraussetzt und sich nicht allein aus einer gewissen Anzahl unreflektierter Lebensjahre heraus legitimieren läßt. Wie war das noch? Myne Fru de Ilsebill ... von wem issn das überhaupt? Grimms? Mal googeln ... Ilsebill ... Ilsebill salzte nach. Wasndas. Hat se den Butt doch gekocht, oder was? Oh oh, das also soll er sein, der schönste erste Satz der deutschen Romanliteratur, gemäß Volkes Meinung 2007. Das Volk der Dichter und Denker! Schöne Bescherung. Happy Christmas. Günters fette Weihnachtsgans. Ha, könnte direkt von Joyce sein: grasso = fett. Hat schließlich das Italienische sehr geliebt. Und die Adriatische Küste. Trieste è la mia anima, steht da geschrieben. Am Hafen. War mal da. War allerdings seinerzeit noch k.u.k., nicht italiana. Und der (un)glückliche Jakob fühlte sich gar nicht königlich, war eher eine lebende griechische Tragödie, der letzte Freidenker, Meister der Epiphanie. Gebt, wes es ist. Jetzt ruht er neben Elias. Passend. Unterhalten sich sicher nachts sehr gepflegt, wenn alles schläft. Beide Meister vieler Sprachen. Nebenan in Kilchberg der Thomas. Die drei Musketiere. Und D’Artagnan wartet etwas weiter südlich in Gentilino. Jaja, die Schweizer Garde: alle waren sie da, Ulrich wollte Rom bezwingen, der wilde Friedrich kam, der patente Albert, der eberne Escher zeichnete die Quadratur der Kreise, Ferruccio transponierte Bach, Franks Hacke brachte lautstark Tiefes Purpur zum Rauchen überm lacus lemannus, wohingegen der erquickte Max seine Werke lieber leiser schaffte: dank ihrer Kulturdissidenten setzen die Eidgenossen immer noch einen drauf auf ihr Matterhorn aus Frankenbanken, Käse-Schoki-Fondue, Zeit- und Offiziersmessern; klein, aber oho, wie die Holländer, die eine Zeitlang quasi im Alleingang die Renaissancemusik am Leben erhielten, Sigiswald mit der Viola vor der Brust wie seinerzeit die Minnesänger, Gustav und Ton, jeder einzelne einzigartig wie zu den besten Zeiten des gouden eeuw, Vermeer, van Rijn, Hut ab, oder Goldhelm besser gesagt. Und was machen wir heute? Nachsalzen. Also wars nicht gut genug gewürzt. Nee, ich hätte ja nen anderen Satz ausgewählt ... mal sehen, was hätten wir denn da: Im Schatten des Hauses, in der Sonne des Flussufers, das hat so was sommerlich-leichtes; oder: Wie froh bin ich, daß ich weg bin! - zeitlose Klassik, und das 232 Jahre vor Hape - aber wie könnte es auch anders sein, la classe non è acqua ... ist doch leichter gedacht als getan, einen knuffigen Aufhänger zu finden, das könnse ja bei BILD am besten ... naja, wie auch immer, kritisieren kann jeder, erst mal selber machen. Überhaupt, gar nicht so einfach, nen gescheiten Zweizeiler zu fabrizieren, Aphorismen konnten unsere Dichter ja früher am Fließband produzieren, obwohl’s noch gar keine gab; oder die zeitlosen Sprüche des Konfuzius, sind auch immer wieder bewundernswert:

       Wenn man früher verrückt spielen wollte, war man bloß ausgelassen,

       Heute schlägt man dabei über die Stränge.

       Früher bestand Stolz in Unbestechlichkeit,

       Heute äußert er sich in rechthaberischer Streitsucht.

       Früher hatte die Dummheit noch etwas Aufrechtes und Geradliniges,

       Heute ist sie verschlagen und sonst nichts.

      Na, wenn das man nicht nach wie vor den Nagel auf den Kopf trifft! Fast so schön wie dieser subversive Franzose: Si