Yahya Wrede

Der Cyber-Mönch


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wieder.“

      Puuh, das war anstrengender als Mount Everest ohne Sauerstoffmaske. Soll noch einer behaupten, geistige Arbeit wäre gar keine. Sitzen da nur rum. Schachgroßmeister können mehrere Kilo verlieren während eines Turniers, muß ja irgendwo bleiben, die verbrannte Energie. Aah, sehr gut, wollte ja eh nen bißchen abnehmen. Gibt wohl doch ne göttliche Vorsehung. Langsam glaub ich an gar nichts mehr, was ich vorher immer geglaubt habe. Auf was für unsicherem Fundament unsere Überzeugungen doch beruhen. Kein Wunder, daß viele sich lieber einzementieren und konsequent auf ihrer falschen Meinung beharren als hinterher zuzugeben, sie wären jahrelang einem Irrtum aufgesessen. Würd ja sonst ständig weh tun. Ist aber im Grunde nur ne schlechte Angewohnheit: wie einer, der seelenruhig in seinem Ruderbötchen vor sich hin döst und gar nicht merkt, wie er immer weiter aufs offene Meer hinaustreibt. Fühlt sich sicher und bringt sich durch seine Untätigkeit in Gefahr. Dabei sollte das Motto doch viel eher lauten: besser verändern als verenden. Man müßte regelmäßig den Spiegel vorgehalten bekommen, einmal pro Woche Großreinemachen und Aufräumen mit den Selbsttäuschungen aller Art, dann sähe es besser aus in dieser Welt, wenn’s nur alle Jubeljahre geschieht, ist’s oft zu spät. Oh, so wie hier, schon wieder Mittagspause, die hab ich mir aber besonders verdient heute. Jepp, so viel Zeit muß sein. Was geht denn sonst noch so vor sich in der Welt? Der übliche Kram, das möcht ich wetten, wenn sie die Nachrichten von vorgestern heute noch einmal bringen würden, tät’s keiner merken. Sowieso, die Hälfte ist langweiliges Altweibergeschwätz über irgendwelche Promis, als wär das von echtem Interesse für uns, wer welchen Hut trägt oder gerade mit wem herummacht. Ist schon nen eigener Berufsstand geworden: was machst du? Ich bin Arzt, ich bin Anwalt, ich bin berühmt, kann man auch gut von leben. Manno, gibt’s denn nichts Kurzweiliges mit Tiefgang mehr? Ah, hier, die Sonntagsgeschichte, mal sehn, was fürn Schmu das nu wieda is:

      Des Jagdfiebers fette Beute

      Der erste zwischenmenschliche Zwist, von dem uns die Geschichte berichtet, betraf ein ungleiches Brüderpaar, und wie wir alle noch wissen, endete dieser sehr unglücklich. Nun kann der Mensch unter seine zahlreichen Fähigkeiten zweifellos auch jene einreihen, aus seinen Fehlern zu lernen; wobei anderereits das bloße Vorhandensein so vieler nützlicher Begabungen nicht zwangsläufig auch bedeutet, daß er von ihnen allen in vernünftigen Maßen Gebrauch machen würde, vielmehr geht er mit manchen recht verschwenderisch, mit anderen doch eher sehr zurückhaltend um, ohne daß diese Wahlfreiheit irgendeiner bestimmten höheren Ordnung zu folgen schiene. Da traf es sich also ein anderes Mal, daß wieder zwei Brüder im Wettstreit miteinander lagen, wer denn der bessere sei, der stärkere, der schnellere, der geschicktere, der erfolgreichere, der was auch immere. Sie hatten sich dermaßen auf ihren persönlichen Kleinkrieg fokussiert, daß der Rest der Welt für sie zur Nebensache wurde, degradiert zum bloßen Austragungsort ihrer olympischen und weniger sportlichen Disziplinen, und gerne wären sie bis zum Mond emporgeeilt, um die Wette natürlich, um dort weiter wettzueifern, wenn es damals schon Weltraumtourismus gegeben hätte. Ihre hehre gegenseitige Haßliebe, die gleichzeitig hohe Anerkennung und der abgrundtiefe Neid dem anderen gegenüber, blieben denn auch der Schicksalsmacht durchaus nicht verborgen, die ihnen ja ihre Disposition bereits in die Wiege gelegt und nur darauf gewartet hatte mit anzusehen, wie sie ihren Ehrgeiz für- oder gegeneinander ausspielen würden: so sollte jene höhere Schaltstelle denn auf gleichsam wunderliche wie unorthodoxe Weise dafür sorgen, daß sich unsere beiden Protagonisten so recht nach Herzenslust würden austoben können. Es begab sich aber wie folgt:

      Eines Tages, auf der Jagd - es ging wieder einmal darum, wer den größeren Fang mit nach Hause bringen würde - sahen sie beide gleichzeitig einen stattlichen Hirsch auf einer Lichtung stehen, der sich, sobald er den Hauch zweier fremder Gerüche wahrgenommen, lieber zum Gehen wandte und, noch ruhig, seinem Alter und seiner Würde entsprechend, im unsichtbarmachenden Dickicht verschwand, woraufhin sie ihm beide nachsetzten. Nun sind Hirsche, und gerade die stattlichen, denn sonst wären sie nicht so stattlich geworden, durchaus flinke Burschen, gerade wenn man ihnen nachsetzt, und so verwundert es nicht, daß sie ihn kurzerhand aus den Augen zu verlieren drohten, zumal, bei allem Talent, das sie ihr eigen nennen durften, ihr olfaktorisches Empfinden bei weitem nicht so weit entwickelt war wie dasjenige des von ihnen kurz zuvor aufgespürten Waldbewohners, so daß sie sich bei der nun anstehenden laufenden Verfolgung nicht auf ihre Nase, sondern nur auf ihre optischen Sinneseindrücke verlassen konnten. Geschwindigkeit war das Stichwort, sie entledigten sich also kurzerhand ihres schweren Jagdgerätes und sonstigen Gepäcks und vertrauten, gemäß ihren ungeschriebenen Wettkampfregeln, auf den goldenen Schuß mit jeweils nur einem Pfeil im Köcher. Das Rennen ging weiter, vier Füße stoben voran, vier Füße flogen hinterher. Da, plötzlich, auf der nächsten Lichtung, bremsen die ersten vier abrupt, ihr Besitzer schaut blitzschnell nach rechts, nach links, duckt sich kurz, holt Schwung, stiebt weiter, noch schneller als zuvor, nach links, mitten in den Wald hinein, gut, daß seine jahrelange Erfahrung ihm zuverlässiger als jedes heutige Navigationsgerät sagt, wo er überhaupt noch durchpaßt mit seinem Prachtgeweih, sonst wäre es ihm gleich schlecht wie weiland dem Absalom ergangen. Soeben treffen auch die anderen beiden Fußpaare ein, und auch sie müssen bremsen, denn vor ihnen steht ein imposanter Vertreter der Spezies ursus arctos horribilis, sehr verärgert, nomen est omen, ob des vielen Herumgerennes in seinem Revier zur schönen Mittagszeit. Man sagt, vier Augen sehen mehr als zwei, doch diesmal ist es umgekehrt, denn vier Augen sehen zwei, und zwei Augen sehen vier. Der Fehdehandschuh ist geworfen, der Hirsch vergessen, wo drei sich streiten, freut sich der vierte, unser cervus elaphus wird solcherlei Sprichwörter fortan des öfteren seinen Enkeln stolz ins wohlgeschwungene Ohr röhren. Alle drei stehen sie nun da und fixieren sich, mucksmäuschenstill, jeder taxiert den anderen. Vom Eifer ihrer Jagdleidenschaft geblendet fällt den Brüdern etwas zu spät ein, ohne Schwert unschwer und ohne Speer spärlich bewaffnet zu sein, sie blicken sich kurz an, ja, zusammen könnten sie es dennoch schaffen, Einigkeit macht stark, was ist schon ein hochgereckter Meister Petz gegen zwei echte Recken, doch dann überkommt sie wieder der gewohnte Stolz, es dem anderen um jeden Preis zeigen zu müssen, und so will jeder den Koloß lieber für sich alleine erledigen. Wo zwei sich streiten, könnte sich der dritte freuen, doch er hält nichts von Volksweisheiten und zieht es lieber vor, abwechselnd in Richtung der beiden homines semi-sapientes zu brüllen und zu fauchen. Aus ists mit der Mittagsruhe. Dann nimmt das Drama seinen Lauf, die Einzelheiten ersparen wir uns, während die geballte Wucht einer halben Tonne Muskelkraft sich über die Jagdgesellschaft entlädt, bis zum bitteren Ende des ungleichen Boxkampfes durch Exitus in der zweiten Runde.

      Das könnte es nun gewesen sein, allein wie schon gesagt, ein höherer Plan wirkt hinter den Kulissen, und viele Jahre später, am selben Ort, treffen wir uns wieder. Wir sehen vor uns einen jungen Mann, nennen wir ihn Björn, groß gebaut, kräftig, furchtlos, auch er ist Jäger, das ist hier Tradition, und streift gerne im Wald herum, auf der Suche nach allem, was man als Trophäe mit ins Dorf bringen kann. Hirsche und Bären gibt es immer noch im Wald, auch wenn sie mittlerweile etwas seltener geworden sind, der menschlichen Vernichtungskraft können auf Dauer auch die stärksten Tiere nicht standhalten. So trifft er denn bald auf besagter Bärenlichtung ein, wo er zu seiner großen Freude einen stattlichen Hirsch erblickt, der sich aber, sobald er den Hauch des fremden Geruchs wahrgenommen, lieber zum Gehen wendet und, noch ruhig, seinem Alter und seiner Würde entsprechend, im unsichtbarmachenden Dickicht verschwindet, links, einer alten familiären Überlieferung folgend. Unser Jägersmann greift zu den Waffen, stutzt jedoch einen Moment, er kennt die Geschichten der Alten, auf dieser Lichtung hatte es einstmals zwei seiner Vorfahren erwischt, und insgeheim hatte er sich schon längst gewünscht, einmal an genau dieser Stelle Revanche üben zu können. Manche Wünsche blieben besser unausgesprochen, sie könnten sich ja materialisieren, und was dann? Denn wir wissen oftmals gar nicht, aus welcher verborgenen Quelle uns unsere Wünsche zufließen, auch wenn so manches Mal ein geheimer Sinn dahinterstecken mag. Da läßt ihn ein Knacken aufhorchen: das muß der Hirsch sein. Tatsächlich, ein Fleck braunes Fell ist im Gesträuch zu sehen, dann schiebt sich allerdings ein dicker Bär auf die Lichtung, schön anzusehen, ein Prachtexemplar. Doch nicht nur dies, dicht neben ihm, ein zweiter, kaum kleiner. Jene hatten eigentlich auf einen gepflegten Mittagsschlaf gesetzt, waren aber stattdessen hirschseits unsanft geweckt worden. Alle drei bleiben sie nun stehen und fixieren sich, mucksmäuschenstill, jeder