Jasmin Cools

Narzisse


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bin dagegen, unsere Tochter wie Fleisch auf dem Markt anzubieten.«

      »Es sind Fotos, Herrgott.«

      »Ich verbiete es.« Ihr Vater hatte ein Machtwort gesprochen. Rose wusste, dass es nun keine Diskussion mehr geben würde. Sie spürte die Wut heiß in sich aufsteigen. Wieso wollte ihr Vater diese Chance nicht zulassen? Tränen liefen über ihr Gesicht. Wie konnte er so ungerecht sein? Sie wollte sich ins Bett legen, die Decke über den Kopf ziehen und dort für immer bleiben.

      Dumpf drangen die Stimmen durch die Tür. Ihre Lautstärke hatte sich verringert. »Alice, wie konnte es soweit kommen?«

      Alice‘ Stimme klang kalt wie Eis. »Ich dachte es, aber ich habe mich geirrt.«

      »Wieso trennst du dich dann nicht? Wieso bleibst du bei deinem langweiligen Ehemann? Des Geldes wegen?«

      Die Mutter lachte freudlos schnaubend auf. »Ich bin schwanger. Und ich weiß meine Verpflichtung gegenüber meiner Familie durchaus einzuschätzen. Ich werde jetzt bügeln.«

      Rose erstarrte in ihrem Zimmer zur Salzsäule. Ihre Eltern würden noch ein Baby bekommen? Aber sie war doch das einzige Kind. Sie allein würde ihnen bei den Geldproblemen helfen – mit ihrer Gabe. Vor ihrem geistigen Auge sah Rose ein kleines Mädchen, das ihr Sommerkleid trug und ihre Eltern in die Arme schloss, während sie danebenstand und nach Aufmerksamkeit schrie. Die Eltern sahen sie jedoch gar nicht. Sie hatten nur Augen für die neue Tochter, die noch viel schöner war als Rose.

      Bei dem Gedanken schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie packte ihre Lieblingspuppe und warf sie mit aller Kraft gegen die Wand. Lilly war eine schöne Puppe, blond, mit blauen Glasaugen und einem gelben Sommerkleid, wie Rose es trug. Mit einem Klirren zerbrach Lillys linkes Auge. Die Puppe fiel schlaff zu Boden, das Auge lag zerbrochen daneben. Rose sank auf die Knie und drückte Lilly fest an ihre Brust. »Es tut mir leid«, schluchzte sie und ließ ihren Tränen nun freien Lauf. Es waren Tränen der Eifersucht auf das Kind, das noch nicht einmal geboren war, ihr aber bereits das Leben verdarb. Rose wusste, dass ihre Eltern allein schuld daran waren, dass Lilly sich verletzt hatte – ihr Vater, weil er ihr die Fotos verbat, und ihre Mutter, weil sie Rose durch eine neue Tochter ersetzen wollte. Jetzt fehlte Lilly ein Auge. Sie würde nie mehr die sein, die sie gewesen war.

      Rose‘ Blick fiel auf den Spiegel, der an ihrem Kleiderschrank hing. Selbst weinend sah sie noch schön aus. Sie hatte zarte Haut, große Augen und sah in ihrem Kleid wie eine Prinzessin aus. Fast musste Rose schon wieder lächeln. Sie stand auf und berührte ihr Spiegelbild leicht mit der Hand, fast liebevoll. Egal, was ihre Eltern tun würden, die Gabe konnten sie ihrer Tochter nicht nehmen.

      Kapitel 3 – Jetzt – Trauma

      »Du siehst unglaublich aus.« Der Chef der Casting-Agentur grinste sie gewinnend an. Rose lächelte zurück. Sie wusste, wie sie wirkte. Sie spürte die Blicke der anderen Bewerberinnen, die neben ihr standen und um eine Zusage bangten. Rose verspürte keinerlei Nervosität. »Eine Bewerberin haben wir noch«, sagte der Chef, der mit seinem offenen Hemd, aus dem das Brusthaar quoll, eher wie ein Zuhälter aussah. »Sie ist ein wenig später gekommen, aber wir wollen ihr dennoch eine Chance geben.« Rose wandte den Blick zur Tür. Wer war noch so mutig oder vielmehr dreist, zu spät zu kommen? Die Antwort ließ sie erstarren.

      »Hallo, verzeihen Sie die Verspätung.« Isabelle lächelte entschuldigend und warf das pechschwarze Haar zurück. Rose kniff die Lippen zusammen. Sie war sich so sicher gewesen, den Job zu bekommen, und doch zweifelte sie jetzt angesichts der lateinamerikanischen Schönheit, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.

      »Hallo Rose«. Isabelle sah sie kühl an und nickte kurz. Rose brachte kein Wort heraus. In ihrem Kopf blitzten Bilder auf, die sie hatte verdrängen wollen. Bilder, die sie am liebsten ausgelöscht hätte. Doch sie hatten sich in ihrem Gehirn eingebrannt.

      Rose‘ Leben war perfekt verlaufen. Seit ihrem 14. Lebensjahr konnte sie sich vor Modelaufträgen kaum retten. Und wenn sie jemanden wollte, dann bekam sie denjenigen auch. Isabelle war die Einzige, die ihr je etwas genommen hatte.

      Rose schloss die Augen und spürte, wie die Angst wieder hochkam – ein Gefühl, das sie nur selten verspürte. Alice hatte ihr beigebracht, niemals Angst zu haben. Wie es ihr wohl ging? Rose sah das Gesicht der gealterten Frau vor ihrem geistigen Auge. Und doch war sie nicht fähig, Sorge zu empfinden. All das war viel zu weit weg von ihrem Leben, weg von ihr selbst.

      »Also, wir möchten, dass Sie alle einmal über den Laufsteg gehen«, sagte der Chef der Casting-Agentur. Rose taxierte die Konkurrenz. Jede einzelne Frau hatte einen kleinen Makel – eine zu große Nase, zu dicke Beine oder einen staksigen Gang. Sie waren keine Gefahr. Nach und nach machten die Mädchen ihren Walk. Doch keine schien die Jury zu überzeugen.

      Als Isabelle den Laufsteg betrat, konnte man ein Raunen vernehmen. Der Agentur-Chef, seine Stellvertreterin, der Geschäftsführer und der Fotograf steckten augenblicklich die Köpfe zusammen und diskutierten. Rose hatte ein merkwürdiges Gefühl im Magen. Von ihrer Selbstsicherheit war nichts mehr übrig, während sie Isabelles lange Beine und die dunkle, makellose Haut betrachtete. Die Jury musste nun entscheiden, ob sie Rose, den amerikanischen Traum, oder Isabelle, die exotische Fremde, haben wollte. Rose spürte, wie ihre Handflächen feucht wurden.

      Als Isabelle zurückging, trafen sich ihre Blicke. Der kalte Ausdruck der dunklen Augen ging Rose durch Mark und Bein, und sie erinnerte sich an jenen Tag, an dem sie sich gewünscht hatte, dass Isabelle einen qualvollen Tod sterben würde.

      Kapitel 4 – Damals – Perfektion

      Als Rose 14 Jahre alt war, spürte sie, wie jeder Junge in ihrer Klasse sie begehrte. Manche fragten sie nach einer Verabredung, manche riefen ihr derbe Sprüche hinterher, und andere wurden rot, wenn sie vorbeiging.

      Einzig Marc war anders. Er war der schönste Junge, den Rose je gesehen hatte. Sein Gesicht verriet niemals Emotionen, blieb stets ausdruckslos. Seine Haut war makellos. Die stahlgrauen Augen schienen bis ins Innerste ihres Gegenübers vorzudringen. Rose fühlte eine Verbindung zu ihm. Er war anders als die anderen, wunderschön, und er wusste es. Marc verstand, wie sie sich fühlte. Er kannte das Gefühl, alle zu sich aufblicken zu sehen, besser als sie zu sein. Auch er hatte die Gabe.

      In seiner Gegenwart verspürte Rose zum ersten Mal in ihrem Leben eine Art Nervosität. Es war, als würde plötzlich alles einen Sinn ergeben. Zwei perfekte Menschen in einer Welt voller tödlich langweiliger Normalität. Zwei Menschen, die zusammen sein mussten, weil beide anders waren. Es war unausweichlich, dass sie ausgehen würden.

      Rose und Marc verbrachten einen romantischen Abend bei einem Picknick im Park. Er hatte sie eines Morgens zwischen Geographie und Algebra auf dem Flur einfach gefragt. Rose hatte ein paar Stunden lang die Unnahbare gespielt und dann eingewilligt. Marc erzählte ihr bei ihrem Date immerzu, wie schön sie sei. Sie verhielten sich, als hätten sie es vorher abgesprochen. Die Komplimente, ihre Gespräche – alles passte. Danach brachte er sie nach Hause und küsste sie zum Abschied sanft. Als Rose die Tür hinter sich schloss, musste sie lächeln. Ihre Ahnung hatte sich bestätigt. Marc war der perfekte Partner und, was noch viel wichtiger war, ihr ebenbürtig.

      Noch am selben Abend rief sie ihre beste Freundin Isabelle an. Sie war die Einzige, die ihr äußerlich annähernd das Wasser reichen konnte. Sie pflegten eine oberflächliche Freundschaft. Rose hielt den Kontakt aufrecht in der Hoffnung, er werde ihr eines Tages von Nutzen sein. Isabelle erfüllte alle erforderlichen Parameter für eine beste Freundin. Sie schenkte Rose Aufmerksamkeit und stand ihr loyal zur Seite. Zwar hätte Rose auf die stundenlangen Telefonate, in denen Isabelle ihre Erlebnisse und Probleme schilderte, verzichten können, doch sie hörte sich stets geduldig an, was die Freundin zu berichten hatte. Man wusste ja nie, ob sich zwischen der einen oder anderen Jammerei doch eine wertvolle Information verbarg. Rose hatte eigentlich nicht sonderlich viel übrig für Isabelle, aber sie schätzte sie für ihr Aussehen und ihre selbstbewusste Art. Von allen Menschen war sie noch der erträglichste.

      An diesem Abend klang