Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


Скачать книгу

Hängematte zu legen und gar nicht erst eine Arbeit aufzunehmen?“ vermutete Qiang.

      „So etwas kannst du in keinem System völlig ausschließen, Qiang. Es wird sicher immer und überall einige geben, die sich auf Kosten des Gemeinwesens durch­schlauchen. Aber ich schätze, das sind heutzutage nur wenige, viel weniger als früher. Denn zum einen ist diese Grundversorgung so üppig nicht, sie reicht gerade mal zum Überleben. Viel Freude kommt da nicht auf. Wir wollen schließlich kein Schlaraffenland für faule Säcke! Und wer möchte schon freiwillig auf ein bißchen Luxus verzichten. Zum anderen haben die Menschen ja heute ganz andere Entfaltungsmöglichkeiten und ganz sicher viel weniger Streß als früher, weil sie einer Tätigkeit nachgehen können, die ihnen Spaß macht. Das war nicht immer so; denk’ nur an stupide Fließbandarbeiten oder sonstige Maloche. Sie werden also eher be­müht sein – ja, sogar das Verlangen haben, in ihrem Wissensgebiet auch tatsächlich eine Arbeit zu finden. Denn die Alternative Nichtstun ist langweilig und auf Dauer sehr öde. Und drittens schließlich haben alle unsere Bürger eine Ausbildung genossen, die auf ethischen und moralischen Grund­sätzen fußt, so daß sie wohl eher ein sehr schlechtes Gewissen bekämen, wollten sie als Schmarotzer auf Kosten der Gesellschaft leben. Denn damit stellten sie sich ja selbst ins gesellschaftliche Abseits. Kurz und gut, es gibt sicher nur sehr wenige Schmarotzer, denke ich, und die paar kann unsere Gesellschaft durchaus ver­kraften.“

      „Denkbar, ja. Aber die, die zum Beispiel krankheits- oder altershalber nicht arbeiten können, die müssen auch mit diesem geringen Grundeinkommen auskommen?“

      „Nein. In diesen Fällen wirkt die AGV wie eine Erwerbslosen- beziehungsweise Renten­ver­siche­rung und überweist entsprechende Zusatzbeträge. Du mußt dir das so vorstellen: Immer wenn du erwerbslos bist, entweder weil du keine Arbeit aufnehmen kannst, oder weil du das Rentenalter erreicht hast, dann wird diese Versicherung wirksam und zahlt dir einen Zusatz­versorgungsanteil entsprechend der Höhe deiner kumulierten Beitrags­leistungen, mindestens aber einen jährlich neu fest­gelegten Mindestbetrag, der allerdings auch nicht gerade üppig ist. Damit allein könntest du keine großen Sprünge machen. Aber zusammen mit dem Grund­versorgungsanteil, den du ja weiterhin erhältst, kommst du schon einiger­maßen gut über die Runden. Also, es wird schon differenziert, ob jemand nicht arbeiten kann oder nicht arbeiten will!“

      „Das muß auch so sein!“

      „Selbstverständlich. Wir können ja die Leute, die vielleicht unverschuldet erwerbslos gewor­den und daher auf Hilfe angewiesen sind, nicht im Regen stehen lassen. Und die Rentner haben sich schließlich ihren Anspruch auf ein angemessenes Auskommen im Alter selbst erarbeitet.“

      „Und Rentenanspruch habt ihr ab 70?“ glaubte Qiang schon mal gehört zu haben.

      „Ja, richtig“, bestätigte Klaus. „Ab 70 erhältst du in jedem Fall deine Rente, egal wieviel du dann vielleicht noch nebenher verdienst.“

      „Und wie ist das im Krankheitsfall?“

      „Für Leute, die aus gesundheitlichen Gründen wirklich nicht mehr arbeiten können, was im übrigen durch zwei unabhängige ärztliche Gutachter bestätigt werden muß, gilt das gleiche wie für die erwähnten Erwerbslosen, das heißt, sie erhalten ebenfalls einen Zusatz­ver­sor­gungs­anteil entsprechend der Höhe ihrer kumulierten Beitrags­leistungen und werden in jedem Fall mit allem Notwendigen versorgt. Bei zeitweiligen Erkrankungen kann unter be­stimmten Voraus­setzungen der Erwerbsausfall durch die AGV ersetzt werden.“

      „Bestimmte Voraussetzungen?“

      „Naja, du weißt schon. Natürlich nicht bei jedem kleinen Zipperlein. Aber bei längerem Ver­dienst­ausfall, zum Beispiel bei Krankenhaus­aufenthalten. So eine Durststrecke kann ja der Betreffende im Normalfall nicht selbst überbrücken, also von der Substanz zehren. Man kann es aber auch dem Arbeitgeber nicht anlasten. Dafür muß also die AGV aufkommen. Wir leben in einem Sozialstaat, in dem jeder Bürger seinen Beitrag zum Gemeinwohl in Form seiner Steuer- und Versicherungsleistungen liefert und damit die Grundlage dafür schafft, daß Alte, Schwache, Kranke und sonstige Hilfebedürftige unterstützt werden.“

      „Und damit auch die medizinische Versorgung?!“

      „Ja, wie schon gesagt: Alle Maßnahmen, die medizinisch notwendig sind, werden von der ge­setz­lichen AGV bezahlt, Vorsorgeuntersuchungen eingeschlossen. Sie sind in einem Leis­tungs­katalog definiert. Darüberhinausgehende, nicht unbedingt notwendige ärztliche, pflege­rische oder sonstige Leistungen sind allerdings dadurch nicht abgedeckt. Die können von je­dem, der will und bezahlen kann, durch eine private Zusatzversicherung bei einer freien Ver­sicherungs­gesellschaft abgesichert werden. Und besondere Risiken für erhöhte Unfall­gefahren, Schäden aus besonders riskanten sportlichen oder sonstigen Unterneh­mungen beispielsweise, müssen sogar extra versichert sein. Andernfalls erfolgt Privat­verrechnung. Denn dafür kommt die AGV nämlich nicht auf.“

      „Hört sich alles in allem sehr vernünftig an, wirklich. So ein Sozialstaat ist schon eine feine Sache – solange alles so funktioniert, wie es soll“, sagte Qiang anerkennend. „Bei uns in China gibt es das leider nicht. Da muß jeder selbst sehen, wo er bleibt. Staatliche Unter­stützung hat es früher mal gegeben, zu Maos Zeiten. Aber die sozialistische Planwirtschaft mit ihrem Ver­sor­gungssystem ist ja lange überholt. Das hat sich alles nicht bewährt.“

      „Das war vorauszusehen“, bemerkte Klaus. „Das konnte ja auf Dauer gar nicht gut gehen!“

      „Ja, ja. Das ist alles Schnee von gestern, und wir sind letztlich froh darüber. Aber ich hab‘ noch­mal eine ganz andere Frage, und zwar zur Ausbildungs­versicherung, die du vorhin er­wähn­test. Wie funktioniert die eigentlich?“

      „Aus deiner Frage entnehme ich, daß ihr keine solche Versicherung für eure Kinder abge­schlos­sen habt.“

      „Das ist richtig. So etwas hat uns auch niemand angeboten.“

      „Ja, das kann ich dir erklären“, sagte Klaus. „Für jedes neugeborene Kind legt der Staat auto­­­matisch eine solche Versicherung bei der AGV an und zahlt einen bestimmten Anfangs­betrag ein, gewisser­maßen als Geburtstagsgeschenk. Die Folgebeiträge müßten von den Eltern ge­zahlt werden. Ich sage bewußt ‚müßten‘ und nicht ‚müssen‘, weil es freiwillig ist. Der Staat geht mit gutem Beispiel voran, aber wenn die Eltern selbst nichts weiter einzahlen können oder wollen, dann bleibt der Anfangsbetrag halt stehen und wird normal verzinst, bis das Kind 18 ist, und dann ausgezahlt. Damit kommt man natürlich nicht sehr weit, aber wie gesagt, das liegt allein in der Entscheidung der Eltern. Sinnvollerweise sollten sie regelmäßig Beiträge zah­len, damit die Ausbildung der Kinder nach der Schule davon finanziert werden kann, andern­falls müssen sich die Kinder selbst um diese Finanzierung kümmern, indem sie nebenher jobben oder einen Kredit aufnehmen.“

      „Das ist interessant“, sagte Chan. „So eine Versicherung haben wir in China nicht.“

      „Aber das bekommen nur die hier geborenen Kinder, habe ich verstanden. Richtig?“ fragte Qiang.

      „Richtig“, bestätigte Klaus. „Die Initiierung und Bereitstellung des Anfangs­betrages durch den Staat erfolgt ausschließlich bei hier im Lande Neugeborenen. Deshalb gilt es nicht für eure Kinder, die habt ihr ja schon aus China mitgebracht. Hättet ihr sie allerdings hier geboren, dann hättet ihr selbstverständlich die gleichen Anrechte. . . . Übrigens, wenn ich hier immer von unserem Staat spreche, so gilt das alles immer auch im übertragenen Sinne für jedes Land der EU.“

      „Hätten wir eigentlich selber, von uns aus, so eine Ausbildungsversicherung für unsere Kin­der ab­schließen können – ohne den Staatszuschuß, versteht sich?“

      „Selbstverständlich. Das könnt ihr in jedem Fall.“

      „Haben wir aber leider nicht gewußt“, bemerkte Qiang. . . . „Naja, vielleicht ist es auch gut so. Wir wissen ja gar nicht, wie lange wir in Deutschland bleiben.“

      „Immerhin haben wir hier den Vorteil, keine Schulgebühren für unsere Kinder zahlen zu müs­sen“, sagte Chan wie zum Trost.

      „Ja,