Peter Beuthner

Das Familiengeheimnis


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arbeiten, müssen dafür auch Ge­büh­ren bezahlen.“

      „An den Vorteilen der AGV partizipieren wir allerdings nicht gerade viel“, bemerkte Chan. „Denn die Kranken­versicherung nutzen wir zum Beispiel überhaupt nicht, weil wir regelmäßig zwei­mal im Jahr in China gründ­lich untersucht und nötigenfalls ärztlich versorgt werden. Wir haben bisher in den ganzen fünf Jahren, die wir inzwischen hier leben, noch nicht ein einzi­ges Mal einen Arzt gebraucht! Naja, und die Erwerbs­losenversicherung werden wir sicher – das hoffe ich jedenfalls! – nie in Anspruch nehmen müssen.“

      „Weiß man’s?“ fragte Ellen, ohne eine Antwort darauf zu erwarten. „Aber mit der Kranken­versicherung wäre ich an deiner Stelle nicht so sicher. Es kann immer ganz schnell mal was passieren, wie gerade bei Gerd zum Beispiel. Und wenn sich eins eurer Kinder nur mal beim Sport verletzt, schon mußt du zum Arzt mit ihm, und dann kannst du froh sein, daß du ver­sichert bist.“

      „Ja, klar, so einen Fall kann ich nie ausschließen. Fragt sich nur, ob ich in Summe nicht besser wegkäme, in so einem Fall privat zu verrechnen, anstatt von allen Kapitaltransfers 10 Prozent für die AGV abzuführen.“

      „Das hängt natürlich von der Schwere der Krankheit oder Verletzung ab“, wandte Ellen ein. „Eine Operation kann schon ganz schön teuer werden.“

      „Ja, sicher. Aber es ist eigentlich müßig, darüber nachzudenken, denn ich habe ja keine Alter­native. Ich lebe in dem System, und also muß ich mich dessen Regeln beugen und brav meine Beiträge abführen. Lediglich die freiwillige Zusatzversicherung kann ich mir sparen.“

      „Warum fahrt ihr eigentlich immer nach China zum Gesundheits-Check? Das ist doch ganz schön aufwendig. Habt ihr kein Vertrauen zur westlichen Medizin?“ wollte Ellen wissen.

      „Hm, . . . nein, das ist es eigentlich nicht“, antwortete Chan. „Natürlich sind wir mit der chine­sischen Medizin besser vertraut, das ist keine Frage. Aber wir hegen auch kein Mißtrauen in eure Medizin – wie kämen wir dazu? Wir haben ja bisher keinerlei Erfahrungen damit ge­macht. Nein, es ist einfach so, daß wir zu unserer Familie und zu unserem Land eine gute und enge Bindung haben und aufrecht­erhalten wollen. Und Beziehungen müssen nun mal gepflegt werden, sonst gehen sie verloren. Deshalb fahren wir regelmäßig rüber und pflegen sie. Ja, und wenn wir dann schon mal dort sind, dann nutzen wir die Gelegenheit und lassen uns gleich noch durch-checken. Wir verbinden also einfach das Nützliche mit dem Angeneh­men!“

      „Verstehe!“ antwortete Ellen lakonisch.

      Das hätte ein guter Schlußpunkt für dieses Thema sein können, und Chan wäre dies sicher sehr recht gewesen, weil sie ohnehin nicht die Absicht hatte, hier in Deutschland einen Arzt zu konsultieren. Aber Ellen schien gerade erst richtig zu weiteren Erläuterungen aus­holen zu wollen, bevor Klaus sie unterbrach: „Entschuldige mal, macht es euch was aus, wenn wir beide“, und er meinte Qiang und sich, „uns noch ein bißchen in die Ecke zurück­ziehen? Ich habe mal wieder ein paar technische Fragen an Qiang.“

      „Nein, nein. Geht ihr nur“, erwiderte Ellen, „wir kommen schon allein zurecht.“

      Mit dem Essen war man ohnehin schon längst fertig, und die Kinder hatten sich bereits vor längerer Zeit in ihren Hobbyraum zurückgezogen.

      „Weißt du“, nahm Ellen den Faden wieder auf, nachdem sich die Männer verzogen hatten, „nur um das Thema von eben abzuschlie­ßen, möchte ich gerade noch zwei, drei Sätze an­fügen.“

      Aber, als mochte sie sich mit dem Ergebnis dieser Dis­kussion nicht zufrieden­geben, insis­tierte sie weiter: „War überhaupt schon mal einer von euch hier beim Arzt?“

      Und wieder wartete sie keine Antwort ab, sondern sprach ohne Pause weiter: „Wir haben hier übrigens auch schon seit langem Ärzte, die sich auf TCM verstehen.“ Sie gebrauchte die übliche Abkürzung für ‚Traditionelle Chine­sische Medizin‘. „Ihr würdet euch also in gewohn­ter Umgebung und Behandlung wie­der­finden. Also, wenn doch mal jemand von euch hier zum Arzt gehen muß, sagt mir einfach Bescheid. Ich kann euch einen guten Tipp geben.“

      „Ja, das ist gut zu wissen, Ellen. Aber, wie schon gesagt, das ist sicher nicht das Problem“, wehrte Chan erneut ab.

      „Weißt du“, fuhr Ellen ungerührt fort, „wir haben inzwischen in der ganzen EU ein sehr mo­der­nes medizinisches Versorgungssystem. Von den hochmodernen und gut ausgestatteten Kran­ken­häusern will ich gar nicht reden, die braucht man ja Gott sei Dank sowieso nur wenig bis überhaupt nicht. Was man dagegen häufiger braucht, das sind die niedergelassenen Ärzte. Die haben zwar nach wie vor ihre freien Praxen, aber sie haben inzwischen fast über­all inter­disziplinäre Gemein­schaften gebildet, die sich in hervorragend ausgestatteten und gut organi­sierten Ärztehäusern lokal zusammengefunden haben – zum beiderseitigen Vor­teil: Die Ärzte können die Infrastruktur und die medizinischen Geräte zumindest zum Teil gemeinsam nut­zen. Und auch die administrativen Aufgaben lassen sich auf diese Weise partiell konzentrieren beziehungsweise zentralisieren, so daß der Verwaltungsaufwand für jeden einzelnen reduziert wird. Kurz: Die Ärzte sparen Zeit und Kosten. Die Patienten pro­fitieren davon, daß sie prak­tisch alle Fachdisziplinen lokal konzentriert vorfinden und deshalb nicht mehr mit ihren Über­weisungen ‚von Pontius zu Pilatus’ laufen müssen. Auf diese Weise können sich auch schnell mal zwei oder drei Ärzte direkt miteinander absprechen und einen Patienten gemeinsam, das heißt interdisziplinär, behandeln. Das ist sehr viel aufwand- und zeitsparender und vor allem behandlungseffizienter für den Patienten. Und selbst die Ärzte profitieren davon, weil sie bei diesen Behandlungen im Gespräch mit Kollegen anderer Fach­disziplinen über ihren eigenen ‚Tellerrand’ hinausgucken und auf diese Weise ihren Horizont erweitern können. Also, wieder eine win-win-situation.“

      „Das hört sich sehr vernünftig an. Doch, muß ich sagen, Ellen.“

      Ellen ließ sich durch diese Bemerkung von Chan in keiner Weise stören, als wenn sie sie gar nicht vernommen hätte, und parlierte munter weiter:

      „Die Ärztehäuser sind in der Regel sehr verkehrsgünstig gelegen, was den ÖPNV betrifft, ver­fügen aber auch über genügend Parkmöglichkeiten für PKWs.

      Im Erdgeschoß befinden sich üblicherweise eine Apotheke, ein Café, ein paar Läden sowie eine für alle Praxen im Haus zuständige Erst-Anlaufstelle zum Zwecke der Informations­auskunft und Anmeldung. Man kann dann nach der Anmeldung solange im Café sitzen und warten oder durch die Geschäfte gehen und Besorgungen machen, bis man aufgerufen wird. Man muß also nicht unbedingt im Wartezimmer sitzen. Wenn man zum ersten Mal hinkommt, wird man in der Regel erst einmal bei einem Arzt für Allgemeinmedizin eingeordnet, der die Erstdiagnose stellt und gegebenenfalls anschließend gleich weiter zum entsprechenden Fach­arzt im Hause überweist. Hat man dagegen einen zweiten oder weiteren Termin beim selben behandelnden Arzt, dann wird man sofort in die betreffende Warteliste eingereiht. Teilweise sind in diesen Ärztehäusern, zumindest in den gutgehenden, auch schon mal zwei Fach­praxen derselben Disziplin, so daß man ‚seinen’ Doktor auswählen kann. Auch sind dann die Wartezeiten nicht so groß.“

      „Interessant, ja! Und sehr vernünftig.“

      „Was ich auch sehr vernünftig finde, ist, daß jeder Patient auf seinem PACCS seine gesamte Kranken­akte von Kindheit an gespeichert hat – alles verschlüsselt natürlich! Früher hätten die Datenschutzbeauftragten ‚Zeter und Mordio’ geschrien. Aber inzwischen sind die Daten­schutz­verfahren so sicher, daß man keine Befürchtungen wegen Datenklaus und -miß­brauchs mehr zu haben braucht. Und es ist ja ein Riesenvorteil, daß der Arzt die für die Anamnese notwen­di­gen Daten des Patienten – dessen Ein­willi­gung vorausgesetzt – aus­lesen und sich auf diese Weise unmittelbar einen schnellen Überblick über mögliche Vorer­kran­kungen oder Unverträg­lich­keiten ver­schaffen kann. Das befähigt ihn, eine fundiertere Diag­no­se zu stellen und eventu­elle Allergien bei der Verschreibung von Medikamenten ent­sprechend zu berücksichtigen. Bei Abschluß der Behandlung werden die Diagnose und gegebenenfalls die durchgeführten Be­hand­lungsmaßnahmen gemäß Leistungskatalog sowie die verordneten weiteren Maßnahmen auf den PACCS zurückgeschrieben.“