Rita anonym um 1900

Tagebuch eines österreichischen Mädchens um 1901 - Band 129 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski


Скачать книгу

ein Kind bekommen sollte. Da waren alle sehr aufgeregt, und da hat ihre Mama einiges gesagt, aber eben nicht alles. Die Ada hat schon einmal gesehen, wie eine Hündin ihre Jungen bekommen hat, aber das hat sie ihrer Mama nicht gesagt; denn die wäre wahrscheinlich sehr böse darüber gewesen. Aber sie konnte nichts dafür, der Hund gehörte dem Herrn, der neben ihnen wohnt, und da hat sie gerade in den Flur gesehen. Und die Ada erwartet es täglich, da sie schon bald 14 Jahre wird. Jedes große Mädel in H. hat einen Verehrer. Die Ada sagt, sobald sie 14 Jahre ist, bekommt sie auch einen; sie weiß schon, wen.

      3. Juni: Heute hat die Ada geschrieben, bei der Mama hat sie sich für die Firmung bedankt, und mir hat sie extra geschrieben. Es ist eigentlich komisch, dass sie nicht mit der Dora gute Freundin geworden ist, sondern mit mir. Aber ich glaube, die Dora redet nicht solche Sachen, höchstens mit ihren Freundinnen im Lyz., besonders mit der Frieda Ertl. Und drum hat die Ada mit mir Freundschaft geschlossen, obwohl ich gerade um zwei Jahre jünger bin. Sie ist wirklich ein liebes Mädel.

      19. Juni: In unserer Klasse kommt fortwährend etwas weg, zuerst die Überschuhe der Fleischer, dann meine neuen Handschuhe und jetzt schon dreimal Geld und heute das neue Täschchen vom Fräulein Steiner. Es war eine große Untersuchung. Aber es ist nicht herausgekommen. Wir glauben alle, es ist die Schmolka. Aber niemand will es sagen. Wir haben heute gar nicht aufgepasst in der Stunde, besonders wie die Sch. um ½12 hinausgegangen ist.

      20. Juni: Auf unserem Klosett hat die Schuldienerin abgefallene Perlen gefunden, aber da sie nichts wusste, hat sie sie auf den Mist geworfen. Ob wirklich die Sch.? das wäre furchtbar gemein. Das Frl. St. ist schrecklich aufgeregt, weil sie das Täschchen von ihrem Bräutigam zum Geburtstag bekommen hat und weil seine Photographie drin war. Eigentlich tut mir aber die Sch. doch leid. Niemand redet mit ihr, obwohl es gar nicht bewiesen ist. Sie ist furchtbar blass und hat immer Tränen in den Augen. Und die Hella meint auch, sie ist es vielleicht doch nicht, denn sie ist einer von den Lieblingen vom Frl. St., und sie hat sie auch sehr gern. Sie trägt ihr immer die Hefte nach Hause.

      22. Juni: Unser Klosett war verstopft, und wie der Schuldiener nachschaute, fand er das Täschchen. Aber was hat das Fräulein davon; sie kann es doch unmöglich mehr brauchen. Wir haben die ganzen Stunden gelacht, so oft wir eins das andere anschauten, und die Lehrkräfte haben furchtbar geschimpft. Nur die Frau Dr. M. sagte: „Ich bitt' Euch, jetzt lacht Euch offen aus über die in jeder Hinsicht unappetitliche Geschichte und dann basta.“

      23. Juni: Heute war ein Skandal. Die Verbenowitsch sammelt die Deutschhefte ab, und wie ihr die Sch. ihr Heft geben will, sagt sie: Bitte das Heft persönlich abzugeben; ich will mit (dann machte sie eine lange Pause) Ihnen nichts zu tun haben. Wir waren alle ganz entsetzt, und die Sch. war so weiß wie die Wand. Um 10 Uhr bat sie, nachhause gehen zu dürfen, weil ihr schlecht sei. Morgen wird jedenfalls ihre Mama kommen.

       24. Juni: Die Mama der Sch. war nicht da. Die Verbenowitsch sagt: Natürlich nicht! Die Sch. war auch nicht da. Die Hella sagt, sie würde so etwas nicht auf sich sitzen lassen, sie würde sich ins Wasser stürzen. Also, eigentlich ins Wasser stürzen, das tut man doch nur aus anderen Gründen. Aber ich würde es meinem Papa sagen, damit er in die Schule geht. Die Franke sagt: Ja, das ist alles recht schön, weil Ihr es nicht getan habt; aber wenn eine es getan hat, dann traut sie sich gar nichts zu sagen zu Hause. Übrigens ist der Vater der Sch. schwer krank, er ist ganz gelähmt und liegt schon seit zwei Jahren im Bett und kann nicht reden.

      27. Juni: Heute sind die Hella und ich mit der Frau Dr. M. gegangen. Eigentlich geht sie nie mit jemanden, aber die Hella ist auf einmal von mir weggerannt und zu der Frau Dr. hin und sagt: Bitte schön, Frau Dr. um Verzeihung, dass ich Sie auf der Gasse belästige; wir müssen Sie sprechen. Und sie war ganz rot dabei. Da sagt die Frau Dr.: „Was ist denn?“ Und die Hella sagt: „Kann man nicht herausbekommen, wer das Täschchen genommen hat? Wenn es die Sch. doch nicht war, so kränkt sie sich zu Tod, wie die Kinder sie behandeln, und wenn sie es war, dann dulden wir sie nicht mehr unter uns.“ Die Hella war wirklich großartig, und die Frau Dr. M. hat sich alles von uns erzählen lassen, auch das von der Verbenowitsch mit den Heften; wir haben deutlich gesehen, sie hatte Tränen in den Augen, und sie sagte: „Das arme Kind! Kinder, ich werde mich ihrer annehmen, das verspreche ich Euch.“ Und wir küssten ihr beide die Hand und mir klopfte das Herz bis zum Hals. Und die Hella sagte: „Sie sind ein Engel.“ So etwas bringe ich nie heraus.

      28. Juni: Heute war die Sch. wieder da, aber die Frau Dr. M. hat nichts gesagt. Wir, die Hella und ich, haben sie fortwährend angeschaut, und die Hella hat sich dreimal geräuspert und da hat die Frau Dr. gesagt: Bruckner, höre doch auf mit deinem Räuspern; davon werden deine Halsschmerzen nur ärger. Aber mir scheint, sie hat dazu mit den Augen gezwinkert. Also vergessen hat sie nicht. Ich wollte zu der Sch. reden, aber die Hella sagte: Warte noch, wir dürfen der Frau Dr. nicht vorgreifen. Jetzt hat sie alles in die Hand genommen. Morgen vor neun gehen wir vor ihrem Hause auf und ab, bis sie kommt.

      30. Juni: Gestern war leider Feiertag und heute hatte die Frau Dr. erst um 11 Uhr Unterricht. Aber sie hat schon mit der Sch. geredet, nur wissen wir nicht, wann und wo; in der Pause bestimmt nicht, und während der Stunde ist die Sch. nicht geholt worden.

      1. Juli: Heute gingen wir mit ihr. Gott, sie ist so süß. Liebe Kinder, sagt sie, das ist eine so traurige Sache, in der man auf keinen Grund kommt. Die Sch. behauptet fest und steif, sie war es nicht und seht Kinder, ob sie es tat oder nicht, diese Tage brennen sich ihr unauslöschlich in die Seele ein und die Hella fragte: „Bitte Fr. Dr. geben Sie uns einen Rat, was sollen wir tun, mit ihr reden oder nicht?“ Da sagte sie: Kinder, ich glaube, dass sie nach dieser Sache im nächsten Jahr nicht mehr zu uns kommen wird; ihr tut ein gutes Werk, wenn ihr ihr die letzten Tage erträglich macht. Intim wart Ihr ja nie mit ihr, aber ein paar freundliche Worte schaden euch nicht und können sie stützen. Und ihr 2 habt ein großes Ansehen in der Klasse; euer Beispiel wird gut wirken. Wir gingen bis zur Schule mit ihr und deshalb konnten wir ihr nicht die Hand küssen; aber die Hella sagte ganz laut: Gott, wie himmlisch süß! Sie muss es gehört haben. Aber die Sch. war nicht in der Schule. Der Papa sagt, er ist froh, bis Schulschluss ist, denn ich bin schon ganz verrückt wegen der Geschichte. Aber er ist doch dafür, dass wir, ich und die Hella, etwas zur Sch. sprechen. Und die Mama auch. Nur die Dora sagte: Ja, es ist ganz recht, aber doch ein wenig reserviert.

      5. Juli: Die Sch. war nicht mehr in der Schule. Morgen bekommen wir die Zeugnisse.

      6. Juli: Wir haben furchtbar geweint, ich und die Hella und die Verbenowitsch, weil wir jetzt beinahe drei Monate die Frau Dr. M. nicht sehen werden. Ich habe nur in Geschichte und Naturgeschichte 2, sonst lauter 1. Die Franke sagt: Wer dem Professor Igel-Nigl nicht zu Gesicht sieht, kann lernen, dass er krumm und dumm wird, und er kriegt doch keinen Einser. Der Papa ist sehr zufrieden. Die Dora hat natürlich lauter Einser und die Hella drei Zweier. Und die Lizzi, mir scheint, auch drei oder vier. Der Papa hat uns jeder ein 2 K-Stück geschenkt, die können wir verjuxen, hat er gesagt. Und von der Mama haben wir Spitzenkragen bekommen.

       9. Juli: Wir gehen heuer nach Hainfeld, das ist fein, ich freue mich schon; aber erst am 20., weil der Papa nicht früher Urlaub bekommt und die Mama mag den Papa nicht so lange allein lassen. Überhaupt wegen der paar Tage. Nur leider ist die Hella schon fort, heute früh nach Parsch bei Salzburg; das Wort ist so unangenehm und die Hella geniert sich auch sehr, es zu sagen; wie man einem Ort einen so ordinären Namen geben kann. Sie haben eine ganze Villa gemietet.

      12. Juli: Es ist gräulich fad. Fast jeden Tag habe ich einen Streit mit der Dora, weil sie sich so viel einbildet. Gestern kam der Oswald. Er ist furchtbar fesch, beinahe so groß wie der Papa, das heißt um einen Viertelkopf kleiner, aber der Papa ist eben riesig groß. Und dann hat er eine ganz tiefe Stimme, die hatte er früher nicht. Und die Haare hat er schief abgeteilt, das steht ihm sehr gut. Er behauptet, er bekommt schon einen Schnurrbart, aber das ist nicht wahr; den müsste man doch sehen; fünf Haare sind doch kein Schnurrbart.

      19. Juli: Gott sei Dank, übermorgen fahren wir endlich. Der Papa wollte, die Mama sollte mit uns vorausfahren, aber sie wollte nicht. Aber eigentlich wäre es ganz gut gewesen.

      24. Juli: Wir wohnen nur drei Häuser weit von H. entfernt. Die Ada und ich sind den ganzen Tag beisammen. Und von der Dora ist zufällig eine Schulkollegin da, die sie ganz gut