Rainar Nitzsche

Wandlungen der Drei


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längst vergangenen Zeiten und fernen Ländern. Und während er all dies erlebt und im Lotussitz von West nach Ost schwebt, merkt er nicht, wie der Tag vergeht, wie es dämmert. Er landet und öffnet seine Augen.

      Bist du es?, frage ich mich und betrachte dich noch immer.

      Träumte ich nicht eben noch von dir und mir und unseren Kindern?

      Was tust du hier? Und wo sind denn nun die Drachen?

      Denn dort sitzt du so nah vor mir, groß und schwarz von Kopf bis Fuß und von Rabengestalt.

      Doch sitzt du nicht auf einem Pfosten. Denn den wird es hier niemals geben: keine Menschen, keine Zäune, keine Pfosten! Also ist in der Außenwelt alles doch ein wenig anders als in Gedicht und Traum.

      Also sitzt da kein Rabe auf einem Pfosten, sondern eine Rabin auf einem Zwei..., sie sitzt auf keinem Zweig, sondern auf dem verwitterten Stubben einer alten von einer Sturmbö gefällten Eiche, in dem die Larven des Hirschkäfers essen und wachsen, bis sie sich verpuppen, um zu schlüpfen.

      Gedanken rasen: Schau sie dir an! Ist sie nicht wie Badb, die irische Göttin des Krieges? Komm näher! Geh dicht ran. Ja. Jetzt siehst du, was sie tut. Sie pickt an irgendwas dort unten, das sie mit den Zehen ihres rechten Fußes hält. Und immer wieder schaut sie auf, dreht den Kopf und senkt ihn wieder. Wechsel der Konzentration auf Mahlzeit und Blick in die Weite der Welt. Das ist Leben, Überleben! Dann fliegt sie davon und lässt die Reste auf ihrem Ruheplatz zurück.

      Ich komme näher und sehe die Leichenteile eines kleinen Wesens, die Augen sind ausgehackt, der Bauch ist aufgerissen. Pelzig zwar und doch irgendwie menschlich, so winzig, so zart - soo tot! Mein Homunkulus fällt mir ein, den ich einst schuf nach meinem Bilde und Rainar nannte. Doch der kann es nicht sein, hier, so fern seiner Heimat. Und außerdem war er ja fast unbehaart. Ich weiß nicht, was für ein Wesen dies ist, doch verstehe ich, was geschah und gehe weiter.

      Gehe ich wirklich durch den Nebel oder blieb ich längst stehen, und es sind die Nebel, die sich bewegen, deren Schleier an mir vorüberziehen? Gehe ich im Kreis, bin ich in einer Zeitschleife gefangen oder einfach nur verwirrt im Geist? Weiter, immer weiter gehe ich - oder glaube ich zu gehen, denn mein Wille ist eisern, auch wenn ich längst jede Orientierung verloren habe -, bis ich dich treffen werde - irgendwo und irgendwann. Was wird mich erwarten an einer Grenze, die weder aus Stahl noch Stein noch Holz ist, die niemand sieht, die niemand riecht, noch hört, die also gar nicht existiert!? Wie auch der Pfosten nicht, von dem ich träumte. Und war da eben überhaupt ein großer schwarzer Vogel auf einem Eichenstumpf? Erträumte ich ihn mir? Brachten die Nebel mir ein Bild aus längst vergangenen Zeiten? Gibt es die ewige Wiederkehr des Gleichen?

      Denn jetzt taucht ein vom Blitz gespaltener, gebrochener Kiefernstamm vor mir auf. Darauf sitzt ein großer schwarzer Vogel, blickt herab, schaut mich neugierig an.

      „Never more! Never more! Never more!“, klingt in mir Erinnerung an einen Raben anderswo, „Raven“ genannt.

      „Hallo!“, spreche ich den einzig realen, den Raben - die Rabin - hier und jetzt an. „Kennen wir uns?“

      Sie nickt mir zu - majestätisch, adlergleich -, sagt keinen Ton, schaut mich nur an.

      So nenne ich dich Kolk, denke ich bei mir.

      „Nein!“, ruft sie empört, die meine Gedanken liest, mit einem Krächzen in meinen Ohren und Worten in meinem Kopf. „Ich trage keinen Menschennamen“

      „Verzeihung, Gnädigste! Sollte ich Sie einfach nur Wächterin nennen? Mein Menschenname lautet übrigens Manfred.“

      Sie antwortet nicht.

      Nun gut, denke ich, keine Empörung heißt einverstanden sein.

      Menschennamen sind nichts für Raben.

      Reden ist Silber, schweigen ist Gold.

      Ich trete näher.

      Lange sehen wir uns an.

      Ich schaue zu ihr auf, die mich still betrachtet.

      „Ich liebe diese Nebel nicht“, beende ich das Schweigen.

      Sie lacht.

       Und du, ja, liebe(r) LeserIn, DU! wunderst dich, dass Raben lachen? Die krächzen doch nur, denkst du.

      Ja, in deinen Ohren krächzen sie, aber weißt du, wie deine Stimme in Rabenohren klingt?

       Hier im Nebelland lachen Raben und sind vielleicht nicht einfach „nur „ Vögel. Denn wenn ein Magier sich in einen Raben verwandeln kann, wer kann dann schon sicher sein, dass ein Rabe ein Rabe ist ...

       Und war nicht die Realität schon immer fantastischer als die Phantasie des Menschen?

      Bist du dir sicher, dass in deiner Welt Raben niemals lachen? Woher willst du das wissen? Wer weiß schon, was Tiere fühlen?

       Du weißt ja noch nicht einmal, was dein(e) Geliebte(r) bei deinem Streicheln wirklich empfindet - und erst beim Sex und ...

      Noch immer lacht die Rabin leise vor sich hin.

      Dann aber - welch Wunder! - antwortet sie doch, ohne ihren Schnabel zu öffnen, spricht sie in mir:

      „Der Name war gut gewählt. Ich bin die Wächterin an den Grenzen.

      Was willst du, Fremdling, im Nebelland? Wer bist du, der du dich hierher wagst? Wo kommst du her? Öffne dich und sprich!“

      Jetzt aber schweige ich.

      Doch sie spricht weiter: „Kommt Zeit, kommt Tod!“

      Ich nicke ihr zu und spiegle ihre Worte.

      Sie hört sie in sich und fragt. „Du willst es tun?“

      Wir brechen auf. Ich folge ihr. Sie steigt auf, kreist über mir. Drei Kreise - und schon lichten sich die Nebel - ein wenig.

      Dann kommt sie zu mir geflogen. „Kroar kroar!“

      Rabenmensch oder Menschenrabe, das ist hier die Frage, fällt mir da ein, als sie sich auf mir niederlässt, sich ihre Krallen in meine Haut bohren und sich an die Schulterknochen klammern.

      Für einen Augenblick nur sah die Rabin unter sich das Büffelfell des Menschen lichterloh brennen und sich darunter schwarze Rabenfedern aus weißer Haut entfalten. Dann ist da wieder nur der fellbekleidete Mensch, auf dessen rechter Schulter sie nun sitzt. Und doch sah sie noch ein wenig mehr: einen Rabenmann, der schaute sie an und alles war klar. Er ist Mensch und Rabe zugleich, ein Wesen nur, manchmal ein Rabe wie sie, der sich in die Lüfte erhebt und von den Toten isst, dies und das und mehr.

      So trage ich sie mit mir dorthin, wo sie noch niemals war, denn ihr Revier sind die Grenzen, die Randgebiete, wo Leben, wie Menschen und Raben es kennen, noch möglich ist. Nun aber gehen wir ins Zentrum des Nebellandes hinein, dorthin, wo die Drachen wohnen. Sie hörte es den Wind flüstern, dass die Nebel vielleicht noch andere Wesen verbergen: winzige Elben und Feen, kleine Götter und große Dämonen.

      Während wir so dahingehen und nichts weiter geschieht, spricht sie in mir: „Du hast gesehen, was ich aß? Das war kein Traum. Ich war es auf dem Eichenstumpf. Du weißt, was Raben tun in diesem Drachenland, hier wie dort, wie einst bei dir?“

      Ich nicke ihr im Geist zu, sehe Bilder aus fernen Zeiten - von ihr, von mir, von uns: Raben und Krähenschwärme, die picken und hacken den toten Menschen die Augen aus und schlingen sie hinab. Und erst die Eingeweide! Unmengen von Darm stecken doch in Menschen und Pferden, die auf den Schlachtfeldern liegen, die weit draußen im Land starben, die kein Mensch fand, zu Asche verbrannte oder in ein Erdengrab legte!

      „Ja“, unterbricht