Rainar Nitzsche

Wandlungen der Drei


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später trennten wir uns.

      So geschah es irgendwo und irgendwann. Doch dies ist alles längst vergangen, auch wenn es bis in alle Ewigkeit weiterwirkt, ganz wie der Flügelschlag eines Schmetterlings auf Erden einen Sturm zur Folge haben kann.

      Vielleicht werde ich eines Tages mehr sehen und - verstehen.

      „Kroar kroar (Nebel, Nebel)!“, ruft eine Rabin irgendwo aus der Ferne.

      Aha, das war der Weckruf, denke ich, ein Zeichen, Zeit für den Aufbruch.

      Also stehe ich auf und gehe weiter, taste mich durch die kühlen Nebelschleier, die sich verwandeln, sobald sie mich berühren: Wasser und Kälte gehen und mit ihnen Men­schen­haut und Menschenhaar. So entkleiden sie mich Nackten weiter. Und sind sie nur ein Hauch, so wirken sie doch wie Säurerauch: hüllen mich ein, legen mich frei.

      Nein, ich schreie nicht. Keine Schmerzen. Jetzt erst verstehe ich, weiß ich, was vor mir liegt - wer dort liegt. Es sind die Drachen! Es gibt sie wirklich. Dort warten sie auf mich seit „Ewigkeiten“. Sie warten und wachen. Sie werden erwachen und mir die eine Frage stellen. Wer sie weiß, darf weiterleben. Wer nicht ... Aber das weiß ja jedes Kind, das Märchen hörte, las oder sah. Also auch ich, der ich einst in einer anderen Welt mit Namen Stadt geboren wurde, aufwuchs, den alten Geschichten lauschte und schließlich selbst Märchen, Mythen und Legenden las.

      Überall kann mein Pfad erlöschen, jederzeit kann alles zu Ende sein. Noch aber leuchtet er, strahlt mein Geist, der sich nun immer mehr leert. Stille wächst, Gedankenströme hören auf zu fließen.

       Schau: Manfred schreitet, nein, jetzt schwebt er ja wieder im Lotossitz, folgt so einem schmalen Pfad aus Licht durch ein Land, das dir fremd scheinen mag und es doch nicht ist, weder Menschen, Tieren, noch Pflanzen.

       Denn alle Körper hier unten sind aus ihrem Stoff gewoben, alle Welten, die er bisher durchwanderte: Stadt , Wald und Nebelland sind Teil der einen großen Welt, unserer aller Mutter ERDE.

      Keine Gedanken. Leere.

       Aus dem Zentrum seiner Stirn bricht ein weißes Licht, leuchtet Manfred den Weg, der die Augen längst bis auf einen Spalt geschlossen hat.

       Jenseits des Leuchtenden Pfades wallen die Nebel wie schon seit Urzeiten. Stille ist allüberall. Nirgendwo ist das Quaken eines Frosches oder Vogelgesang, also auch keine Rabenrufe.

       Ist dies die Ruhe vor dem Sturm?

       Warten wir also gespannt auf die Dinge, die da kommen. Oder aber auf Godot? Doch wer oder was war denn das noch mal? Also warten wir auf das Erscheinen der Herren des Nebellandes - wenn es sie denn gibt. Bei all der Düsterheit und dem Nebel könnten es Zombies sein. Oder Dracula, der Vampir, Nosferatu gar. Ja, wenn dies eine von Menschen erdachte Welt - Traum, Erzählung, Theater, Buch, Film - wäre. Aber so ist es ja nicht.

       Wenn da aber Drachen leben, wie Manfred meint, sind nicht auch sie nur Wesen aus Menschenträumen, nicht mehr als Märchengestalten? Warum sollten echte Drachen Menschenschätze rauben und bewachen? Weshalb sollten sie zu welchem Zweck auch immer Menschenprinzessinnen entführen? Oder wer hörte je davon, dass Menschenmänner Krokodilfrauen raubten, weil sie sie begehrten? Drachen könnten ganz anders sein, als Menschen meinen. Gab es sie denn einst einmal irgendwo? Haben die alten Geschichten einen wahren Kern? Was ist Wahrheit, Fantasie, was Lüge?

      Ich öffne meine Augen und schwebe noch immer und sehe sieben Raben vor mir auf dem Ast einer uralten Weide am Ufer des Nebelsees sitzen. Es sind die ersten lebenden Wesen seit langem.

      Noch immer ist alles still. Denn auch die schwarzen Vögel schweigen.

      Staunend - nein, nein, nicht mit offenen Schnäbeln - staunend schauen sie das Licht und den Menschen.

      Sieben an der Zahl, diese fehlt ja noch in meiner Rabenzahlenmagie, denke ich und mir fällt ein Märchen ein. Es heißt Die sieben Raben:

      Sieben.

      Einst hatte ein Paar sieben Söhne, aber keine Tochter. Als diese endlich schwächlich zur Welt kam, sollte sie noch die Nottaufe erhalten. Also schickte der Vater seine Söhne aus, Wasser zu holen. Doch der Krug fiel in den Brunnen und die Söhne trauten sich nicht heim. Die Zeit verging, und ihr Vater sprach im Zorn: „Ich wollte, dass sie alle zu Raben würden!“ So verfluchte er sie und so geschah es: als Raben flogen sie davon. Sie aber überlebte und wuchs heran, so wunderschön und erfuhr erst spät, dass sie sieben Brüder hatte, zog hinaus in die Welt, um sie zu finden, und gelangte ans Ende der Welt. Dort traf sie auf Mondin und Sonn, die zu ihrer Zeit Menschenfresser waren. Die Sterne aber waren freundlich, einer von ihnen, der Morgenstern gab ihr den Schlüssel - das war ein Hinkelbein - zum Glasberg, in dem die Raben wohnten. Doch sie verlor den Schlüssel und musste einen Finger opfern, um ihre Brüder zu erlösen: aus Raben wurden wieder Menschen.

      Verwünschung, Erlösung, Verwandlung von Menschen in Raben, von Raben zurück in Menschen, Geschwisterliebe und Opfer: Fleisch und Blut erlösen die Verfluchten.

      „Kroar kroar“, höre ich Sieben Raben rufen.

      Bilder steigen auf, geboren – wiedergeboren, Gedanken beginnen zu kreisen: Krähenkrächzen, Rabenkrähen, Raben, die hier leben, sich ernähren vom Nachwuchs der Kleinen, von Kranken und Leichen. Augen und Gedärm, Knochen und die Reste der Felle und Federn verbrannter Tiere.

      Feuer. Flammen. Drachen! Nicht Wächter, nicht Wachen!

      Erwachen die Drachen?

      Drachenträume

      Blau der Himmel

      über weißen Wolken,

      die sich wandeln in Drachen,

      die lachend erwachen.

      Ihr Leben

      währt Äonen.

      Feuer ist ihr Atem

      in diesem kalten nassen Land.

       Worte des Magiers

       Niemand fragt nach dem Weg.

       Nach welchem Weg?

       Wohin?

       Also antworte ich dir auch nicht: „Wie du hinkommst? Das ist die einfachste Sache der Welt. Wer suchet, der findet!“

       Und so findet ihn Manfred irgendwann im Irgendwo.

       Sieh an, schau da, sein Mund ist geschlossen. Erstarrt liegt er da - doch wirklich leblos, gänzlich tot?

      Träumen Drachen?

      Träumen Drachen von längst vergangenen Zeiten, von Drachen und all den Sachen, die Drachen miteinander machen?

      Wartet der eine hier vor mir?

      Worauf?

      Dass ich die Worte spreche, die ihn zum Leben erwecken?

      Gut, ich werde es tun. Schließe meine Augen und spre..., kein Menschenmund kann sie sprechen. Also denke ich dem steinernen Drachen Bilder zu, der da so gewaltig vor mir aufragt, dem winzigen, sitzend schwebenden Menschen.

      Und tatsächlich, der Drache erwacht aus seinem steinernen Traum und öffnet seinen gewaltigen, vor Zähnen starrenden Mund.

      Ich sehe ihn, ohne meine Augen zu öffnen - Lider statt Kinderhände, hinter